SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

20JUN2014
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Ich blicke in die weit aufgerissen Augen eines Achtjährigen. Für einen Moment starrt er mich an. Dann schleudert er eine rote Plastikkugel in meine Richtung. Sie trifft mich mitten auf den Brustkorb. Auf der Stelle sinke ich nieder. Ich bin ein Monster - betäubt durch die Kugel eines Kindes. Natürlich ist das Ganze nur ein Spiel. Es ist Freitagnachmittag, Abschluss der Gruppenstunde. Wie immer wird getobt. Wer den Raum betritt ahnt vermutlich nicht, was die Handvoll lachender und kreischender Kinder verbindet. Jedes von ihnen trauert – Jeder Junge und jedes Mädchen hat ein Elternteil verloren. Und trotzdem wird in dieser Gruppe viel gelacht und herumgealbert. Das Projekt heißt Trauer-Power. Der Name verrät viel über die Idee, die dahintersteckt: die Kindern sollen eigene Kraftquellen entdecken –Kraftquellen, die ihnen helfen sollen, besser mit ihrer Trauer klarzukommen. Daher richtet sich der Blick nicht nur auf den Verlust. Wir reden nicht ständig über Tod, Abschied nehmen und den damit verbundenen Schmerz. Stattdessen lesen wir Geschichten, spielen Kooperations- und Abenteuerspiele oder basteln. Dabei geht es immer auch darum zu entdecken, was tut mir gut? Welche Schätze trage ich in mir? Phantasie, Kreativität, Neugierde, Mut.

Als ich angefangen habe, die Gruppe zu begleiten, war meine eigene Mutter erst vor wenigen Monaten gestorben. Irgendwann wurde mir klar, dass Trauer selbst kein Gefühl ist. Trauer ist ein Zustand, in dem viele Gefühle vorkommen: Selbstverständlich Traurigkeit und Schmerz, aber auch Freude und Dankbarkeit; manchmal war ich niedergeschlagen, manchmal auch heiter. Vielleicht besteht die Kunst ja darin, jedem diese Gefühle einen angemessenen Platz zu geben.

Wir trauern ja nicht nur, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Öfters ist es eine verpasste Chance, der wir nachtrauern oder eine Beziehung, die zerbrochen ist. Einfach darüber hinweggehen, wäre unmenschlich. Es ist wichtig, den Schmerz zuzulassen und traurig zu sein. Wichtig ist es aber auch, den eigenen Stärken zu vertrauen und mit Mut, Phantasie und Kreativität, die Lust am Leben zurückzugewinnen. Dann kann ich erfahren, dass Trauer ist kein Monster, das ich besiegen oder betäuben muss, sondern dass in der Trauer auch viel Power stecken kann: Kraft, um Abschied zu nehmen und Kraft, um Neues zu wagen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17794
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