SWR4 Abendgedanken

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Mein Bruder hat eine Vorliebe für Türme. Er ist Architekt und ganz in seinem Element, wenn er mal wieder die Aufgabe übernommen hat, einen in die Jahre gekommenen Turm zu restaurieren. Einen Wasserturm, der schon lange  ausgedient hat, einen romantischen Aussichtsturm oder den Turm einer alten Backsteinkirche.

Bauwerke zu errichten, die möglichst weit hinauf in den Himmel ragen – auf diese Idee sind Menschen schon sehr früh gekommen. Der älteste Turm soll schon im 9. Jahrtausend vor Christus in Jericho gestanden haben. Der berühmte Turm zu Babel ist 600 vor Christus tatsächlich gebaut worden, 92 m hoch!
Es hat die Menschen wohl schon immer fasziniert, auszuprobieren, wie hoch sie bauen können. Und es gab die unterschiedlichsten Beweggründe Türme zu errichten: In Babel, so wird im Alten Testament der Bibel erzählt, wollten die Menschen,  einen Turm bauen um auf einer Stufe mit Gott zu stehen und sich selbst, wie es heißt, „einen Namen machen“, also zu Ruhm gelangen. Das soll Gott nicht gefallen haben und deshalb hat er die Menschen zur Aufgabe dieses Projektes gezwungen, indem er ihnen verschiedene Sprachen gegeben hat und sie sich so nicht mehr verständigen konnten.

Türme, das haben die Menschen erkannt, können Macht und Überlegenheit ausstrahlen. Deshalb ist der Drang der Menschen in die Höhe zu bauen unerschöpflich.

Die ursprünglichen Gründe waren auch ganz praktischer Art, ein Turm ermöglicht einen guten Überblick. Gefahren können früh entdeckt werden. Ein Turm kann Schutz bieten und Orientierung. Kirchtürme sind weithin sichtbar in der Landschaft und verbreiten den Klang ihrer Glocken weit ins Land.

Was ist es wohl, das meinen Bruder an diesen alten Türmen so fasziniert? Die Architektur natürlich, die verwendeten Materialien…

Ich vermute, da steckt noch mehr dahinter. Wir sind mal zusammen auf den restaurierten Turm einer alten Backsteinkirche gestiegen – es war schon ein bisschen abenteuerlich, die schmale Stiege unmittelbar unter den riesigen Glocken hoch zu steigen. Doch dann dieser herrliche Ausblick beim Heraustreten auf die Plattform!

Auf einmal steht man sozusagen „über den Dingen“, über dem pulsierenden alltäglichen Leben. Ich habe mich irgendwie leichter gefühlt, hier oben, dem Himmel ein Stück näher.
Ich glaube, meinem Bruder geht es auch so und er steigt deshalb so gern mal allein auf eines seiner Turmprojekte und lässt sich hier die frische Luft um die Nase wehen. Von hier oben sieht alles so klein aus, überschaubar. Und man sieht, dass es hinter dem Horizont immer weiter geht.

Vielleicht wirft er dann auch ab und zu einen Blick „von oben“ – im übertragenen Sinne -  auf seine ganz konkrete Lebenssituation. Hier oben, mit sich allein, so zwischen Himmel und Erde, da kommen einem möglicherweise ganz neue Gedanken.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17758
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