SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Nach neun Jahrzehnten sehen sie immer noch strahlend aus. Wie machen Sie das?“, fragt die Journalistin die hoch betagte Jubilarin. Und die Jubila¬rin antwortet: „Ich kaufe teure Kosmetika. Mein Mann meinte immer,
Nivea tue es auch. Doch ich liebe teure Cremes. Das ist die Magie der auf¬geklärten Frau.“
Bei der aufgeklärten Frau handelt es sich um die Psychoanalytikerin Margarete MITSCHERLICH. Zusammen mit ihrem Ehemann Alexander gehörte sie zu den führenden Intellektuellen der jungen Bundesrepublik. Gemein¬sam verhalfen sie der von den Nazis verfemten Psychoanalyse zu neuem Einfluss.
In dem Gespräch, das eine namhafte Zeitschrift aus Anlass ihres 90. Ge¬burtstags veröffentlichte, gewinnt man zuletzt den Eindruck: hier wird die Ernte eines langen Lebens eingebracht.
Das Gespräch endet dann auch nicht in dem leichten Ton, in dem es be¬gonnen hat. Die letzte Frage der jungen Journalistin lautet: „Haben Sie Angst vor dem Sterben?“
Margarete MITSCHERLICH antwortet: „Natürlich. Und es wäre sehr ange¬nehm vom lieben Gott, an den ich nicht glaube, wenn er mich geistig klar sterben ließe. Ich habe die größte Angst vor der Abhängigkeit, die ein um¬nachteter Kopf mit sich bringt.“
Und dann fährt sie fort: „Doch wem hilft solche Grübelei? ‚Seht die Vögel unter dem Himmel an’, heißt es in der Bergpredigt. ‚Sie säen nicht, sie ern-ten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer Vater ernährt sie doch. Darum sorgt nicht für morgen. Es ist genug, dass ein jeder Tag seine eigene Plage hat.’ So versuche ich zu leben. Tag für Tag.“
Damit endet das Gespräch mit der Jubilarin. Und ich denke: ein gutes Stück dialektischer Theologie ist das. Ich meine das in dem Sinne, dass Margarete MITSCHERLICH dem landläufigen Bild eines lieben Gottes, der alles zum Happy End führt, widerspricht.
Und dennoch erscheint im Widerspruch eine Wahrheit: dass der himm¬lische Vater, dem die Vögel nicht zu gering sind, ihnen Speise zu geben, dem Menschen – gerade dem, der an einer Schwelle steht – eine funda-mentale Zusage macht. Sie lautet: Sorge nicht! Denn ein anderer sorgt für dich. Darauf darfst du dich verlassen. Das ist genug!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=1771
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