SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Manche Menschen sehen mehr als andere. Jesus zum Beispiel war so einer. Anscheinend hat das die Menschen damals beeindruckt. Denn immer wieder fängt etwas Besonderes damit an, dass es heißt: "Als Jesus sie sah" oder: "Da sah ihn Jesus." Das war zum Beispiel so bei einer Frau, die seit 18 Jahren gebückt durchs Leben gegangen ist. Jesus hat sie in einer Synagoge gesehen, als er dort gesprochen hat. Dann wird erzählt: "Da war eine Frau. Seit achtzehn Jahren wurde sie von einem Geist geplagt, der sie krank machte. Sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr gerade aufrichten. Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich. Er sagte zu ihr: "Frau, du bist von deiner Krankheit befreit!" Und er legte ihr die Hände auf. Sofort richtete sie sich auf und lobte Gott.“ (Lk 13, 11-13)
Was hat Jesus gesehen, als er die gekrümmte Frau gesehen hat? Bestimmt, wie sie sich gebückt durchs Leben gequält hat. Und sicher auch, wie sie von anderen gemieden worden ist und manchen mitleidigen Blick ertragen musste. Gewiss hat  ihn das Schicksal der gekrümmten Frau angerührt. Aber das ist nicht alles. Jesus hat gesehen, was andere nicht gesehen haben. Die Möglichkeit, dass sie sich nicht abfinden muss mit ihrem Schicksal. Jesus hat die Möglichkeit gesehen, die Gott ihr gegeben hat. Sie soll aufrecht durchs Leben gehen.
Ich entdecke in der Geschichte zweierlei: In der Begegnung mit Jesus ereignen sich spontane Heilungen. Manche Heilung geschieht körperlich und sichtbar. Manche geschieht innerlich.
Und das andere: Was von anderen übersehen wird, wird von Jesus wahrgenommen. Er sieht nicht nur, was ihr fehlt. Er sieht auch, dass sie nicht auf ihre Defizite festgelegt ist. Er sieht die Möglichkeiten, die sie hat – weil Gott sie ihr gegeben hat.
Ich wünsche Ihnen und mir, dass wir so von Gott und anderen Menschen angesehen werden. Dass wir spüren, welche Möglichkeiten in uns stecken. Das richtet auf für den aufrechten Gang. Die verkrümmte Frau, die Jesus gesehen hat, ist ein Beispiel dafür. Und dann wünsche ich Ihnen und mir, dass wir andere wahrnehmen, die sich nichts zutrauen. Die sollen auch spüren: ich habe mehr Möglichkeiten, als ich meine.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17679
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