SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Mein Bruder war neun Jahre alt, als er in der Schule einen Aufsatz schreiben musste. Es war kurz vor Weihnachten, das Thema: „Was schenke ich meinen Eltern?“ Was ihm für Vater einfiel weiß ich nicht mehr, aber das Geschenk für Mutter war klar: eine bestimmte Süßigkeit, die ihr gefiel und - das war der raffinierte Nebeneffekt – auch dem, der sie schenkte. Also schrieb mein Bruder seinen Aufsatz, stockte aber dann beim Namen des Konfekts. Lehrer wissen alles, dachte er, hob also die Hand und fragte: „Wie schreibt man …“ und dann nannte er den Namen der bekannten Süßigkeit, die ich natürlich jetzt nicht nenne.   
Der für allwissend gehaltene Lehrer zuckte zusammen, schüttelte dann energisch den Kopf, antwortete nicht wie erwartet sondern polterte barsch: „Ach Quatsch, schreib Pralinen.“  

Mein heute fünfzigjähriger Bruder hat das bis heute nicht vergessen. Heute schmunzelnd, damals verärgert. Er hatte damals sofort erkannt, dass der Lehrer genauso wenig Bescheid wusste wie er.  

Warum fällt es so schwer, zuzugeben, wenn man mal etwas nicht weiß, warum fällt es so schwer, Fehler und Niederlagen einzugestehen? In meiner Schulzeit gab es auch einen sehr speziellen Mathelehrer. Wenn er sich mal wieder tüchtig verrechnet hatte, was leider nicht selten vorkam, erklärte er ohne mit der Wimper zu zucken, das sei Absicht gewesen, um unsere Aufmerksamkeit zu testen. Bravo! Dadurch wurde seine Autorität nicht stärker, im Gegenteil, sie schwand dahin.  Ich kenne Leute, die bei Diskussionen eher ganz geschickt Argumente der Gegenseite annehmen und ins Feld führen, als den Satz über die Lippen zu bekommen „Ich habe mich geirrt, Du hast Recht…“.  

Nur keine Schwäche zeigen, ist die Devise. Ich habe Respekt vor Menschen, die über ihren Schatten springen können, Fehler machen und zu ihnen stehen. Und denen kein Zacken aus der Krone fällt, wenn andere auch einmal Recht haben. Ich habe Respekt vor Menschen mit Ecken und Kanten. Mit Siegen und Niederlagen. Vor Menschen, die sich nicht wichtiger nehmen als nötig und die die Größe haben, bisweilen auch über sich selbst zu lachen. Der indische Jesuitenpater Anthony de Mello hat es einmal so ausgedrückt: „Diejenigen, die keine Fehler machen, machen den größten aller Fehler: Sie versuchen nichts Neues“.  

Ihnen allen einen erholsamen Abend und eine gute Nacht,

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17650
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