SWR2 Wort zum Tag

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Meine Mutter wurde während deszweiten Weltkriegs aus ihrer Geburtsstadt Köln evakuiert. Die Alliierten bombardierten die Stadt. Mein Oma und ihre fünf Kinder, darunter meine Mutter, wurden in Züge verfrachtet.Ohne Vater, der war im Krieg. Und niemand wusste, wo es hinging. Quer durch Deutschland fuhr der Zug. Richtung Osten. Tagelang. Zwischendurch wurde der Zug von Tieffliegern angegriffen.

Meine Mutter erzählt, dass sie in Schlesien auf einem Rittergut landeten. Niemand wollte die evakuierte Kölner Familie bei sich haben. Wochenlang hausten meine Mutter mit ihren Geschwistern in zwei winzigen Zimmern. Sie hatten nur das bei sich, was sie am Leib trugen.In Schlesien war zu der Zeit vom Krieg nichts zu merken. Das in Köln bei den Bombenangriffen die Luftschutzbunker erzitterten, hielten die Ostdeutschen für Ammenmärchen. Aber das erste Mal seit Monaten konnte meine Mutter ohne Angst abends einschlafen.

Ich selbst habe das zum Glück nie durchmachen müssen: Bomben und Gewalt, Hunger und Tod. Aber viele Menschen erleben heute das, was meine Mutter vor siebzig Jahren erlebte. Sie müssen fliehen. Allein in den ersten drei Monaten 2014 haben über vierzigtausend Menschen versucht, nach Europa zu kommen. Auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Syrien, vor unmenschlichen Lebensbedingungen in vielen afrikanischen Ländern. Vierzigtausend Menschen: So viele Einwohner haben Rottenburg am Neckar oder Primasens.

Weltweit sind über dreißig Millionen Menschen auf der Flucht. Sie flüchten vor allem innerhalb ihres eigenen Landes vor Krieg und Gewalt: In Syrien, in Kolumbien oder in Nigeria. Dreißig Millionen: So viele Einwohner hat ganz Kanada.

Wenn ich an die Erlebnisse meiner Mutter denke, dann ist mir klar: Die Menschen auf der Flucht haben ein Recht darauf, bei uns unterzukommen. In Europa herrscht, trotz der Konflikte in der Ukraine, zum Glück Frieden. Und es müsste eigentlich selbstverständlich sein, dass wir das viele, was wir in Deutschland und Europa haben, mit denen teilen, die nichts besitzen, als das nackte Leben. Dass wir die aufnehmen, die heimatlos und auf der Flucht sind. Die Generation meiner Mutter hat erfahren dürfen, wie gut es tut, aufgenommen zu werden. Aus dieser Geschichte dürfen wir lernen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17610
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