SWR2 Wort zum Tag

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„Ich habe jetzt die gleiche Frisur wie Opa“, sagt Paul. Er ist elf Jahre alt und hat Leukämie. Bei der Chemo sind ihm die Haare ausgefallen. Pauls Bonmot ist zum Titel eines Buchs geworden, das in einer Schreibwerkstatt an der Tübinger Universitätsklinik entstanden ist. Die katholische Veronika-Stiftung hat dieses Projekt gefördert.[1]

In dem Buch geben krebskranke Kinder und Jugendliche einen sehr intimen Einblick in ihr Leben. Sie schildern, was sie im Klinikalltag erleben. Sie erzählen von Angehörigen und Freunden, die oft einfühlsam und eine große Hilfe sind, manchmal aber auch hilflos und überfordert. Hoffnung scheint in diesen Texten immer wieder auf; aber es wird auch deutlich, wie verzweifelt die jungen Menschen bisweilen sind.

Es bewegt mich, wenn ich das lese; aber es ist nicht bedrückend. Ich begegne Lebensmeistern, die sehr realistisch, oft humorvoll, mit viel Phantasie über das Leben, über Gott und die Welt nachdenken. Sie sehnen sich nach Dingen, die für die meisten ihrer Altersgenossen selbstverständlich sind. So möchte die 16-jährige Sevval einfach einmal wieder um sieben Uhr aufstehen, einen ganz normalen Schulalltag haben mit zwei Stunden Mathe. Oder mit der Katze schmusen, ins Kino gehen, in Konzerte, zum Tanzen. „Ich lebe jetzt viel bewusster und freue mich jeden Tag, einfach nur zu leben.“, sagt Thao, ein junger Mann von 22 Jahren.

Das berührt mich am eindringlichsten: wie achtsam diese jungen Menschen das Leben wahrnehmen. Wo nichts mehr so ist, wie es einmal war; wo das Morgen und Übermorgen ungewiss ist; wo sich alles auf das Jetzt konzentriert: da kann das Unscheinbarste zum Glücksmoment werden. Der 15-jährige Fabian darf nach 100 Tagen Isolation im Krankenzimmer in der Silvesternacht kurz an die frische Luft. „Ich sollte den Mundschutz nicht abnehmen, aber ich musste es einfach tun“, erzählt er. „An dem Tag hatte es geregnet. Ich habe den Regen gerochen, das war eine Explosion in meiner Nase. Der Regen roch frisch und gut.“ Und Franzi, die nach neun Jahren Leukämie wieder gesund ist, sagt: „Wenn mich jemand auf der Straße anlächelt, einfach so, bin ich glücklich.“

Endlichkeit und Fülle des Lebens liegen dicht bei einander. Weil mein Leben endlich ist, kann ich jeden Tag als Chance begreifen. Dafür öffnen mir diese jungen Menschen die Augen.


[1] Kathrin Feldhaus/Margarethe Mehring-Fuchs (Hrsg.), Ich hab jetzt die gleiche Frisur wie Opa. Wie kranke Kinder und Jugendliche das Leben sehen, mit einer CD: Hörspiel „Glücksmomente“, Ostfildern 2014 – gefördert von der Veronika-Stiftung der Diözese Rottenburg-Stuttgart.

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17409
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