SWR2 Wort zum Tag

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Vor 50 Jahren passierte etwas Merkwürdiges: Der schon todkranke Angelo Roncalli, Papst Johannes XXII, hatte spontan die Idee, nochmal an den roten Faden seines ganzen Lebens zu erinnern, an den Glauben, aus dem er selbst wirkte und lebte. Dabei sagte er: „Mehr denn je, bestimmt mehr als in den letzten Jahrhunderten sind wir heute darauf ausgerichtet, dem Menschen also solchem zu dienen, nicht bloß den Katholiken, darauf, und in erster Linie all die Rechte der menschlichen Person und nicht nur diejenigen der katholischen Kirche zu verteidigen. Die heutige Situation, die Herausforderung der letzten 50 Jahre und ein tieferes Glaubensverständnis haben uns mit neuen Realitäten konfrontiert... Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert; nein, wir sind es, die gerade anfangen, es besser zu verstehen.“ Ein erstaunlicher Satz von einem fast 80 jährigen, sterbenden Christenmenschen. Dort, wo andere am Ende sind, sagt er: Wir sind gerade erst am Anfang, Christen zu werden und das Evangelium zu entdecken. Nichts von Resignation, nichts von Jammerei, nichts von negativem Denken und Reden – eine ungeheuere Zuversicht und Hoffnung gerade auch angesichts des Todes. Der Glaube an Gott, der ihn ein Leben lang führte und trug, macht diesen immer älter werdenden Papst in Wahrheit immer jünger – und  das entspricht  christlichem Osterglauben. Schon in seiner Eröffnungsrede zum Konzil hatte Angelo Roncalli  vor den Unheilspropheten und Schwarzsehern gewarnt, vor denen, die überall ein Haar in der Suppe sehen und sich am liebsten auf andere herausreden – und wer kennt diese Gefahr nicht?  Auch der jetzige Papst teilt diese unbekümmerte Glaubenskraft. Im Konzil nahm die Kirche endlich Abschied von einer gewissen Selbstzufriedenheit und falschen Geschlossenheit. Treffend betont Angelo Roncalli, es gehe um das Glück jedes Menschen, es gehe um Gerechtigkeit für alle Menschen, um die Würde der menschlichen Person. Kirchenangelegenheiten, so wichtig sie sind, dürfen nicht im Mittelpunkt stehen und alle Energie verbrauchen.  Das  humane Niveau einer Gesellschaft ist am besten dort zu erkennen, wo ihre Opfer sind – die Ausgeschlossenen, mundtot Gemachten und an den Rand Gedrängten. Ganz wie es Jesus damals tat, versucht dieser Papst jetzt, eine neue Weltordnung zu fördern, in der es nicht mehr Oben und Unten gibt, nicht mehr Reich und Arm, nicht mehr Jene im Zentrum und Jene am Rande. Eine bloße Utopie, nur Wunschdenken? Nein:  Wir fangen gerade erst an, das zu werden, was wir sind: Menschen mit einer Vorliebe für den Verrückten aus Nazaret, der selber an die äußersten Rand gedrängt wurde und wie ein Verbrecher sterben musste. Ich finde es toll, dass ein Angelo Roncalli sogar noch auf dem Sterbebett diese Hoffnung hoch hielt. Das Entscheidende ist immer: Heute  anzufangen, das Evangelium neu zu verstehen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17126
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