Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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In den letzten Minuten seines Lebens wird jeder Mensch religiös.“ Das sagte mir ein Bestattungsunternehmer aus seiner langjährigen Erfahrung mit Sterbenden. Unmittelbar vor dem Tod erkenne jeder Mensch, dass die Wirklichkeit größer sei als das Handfeste und Erfahrbare. Wenn die Menschen im Sterben alles loslassen, weite sich der Blick und richte sich auf das Jenseits.

Ich zweifle nicht an der Erfahrung des Bestatters. Aber sie ist mehrdeutig. Vielleicht ist diese späte Religiösität ja nur ein Aufbäumen gegen das Unvermeidliche, der Griff nach dem Strohhalm angesichts des drohenden Todes.

Ich glaube allerdings, dass etwas anderes dahintersteckt: Angesichts des Todes werden die Menschen vielleicht nicht plötzlich religiös, aber sie erinnern sich möglicherweise an besondere Erfahrungen, die sie gemacht haben:

Wenn Menschen lieben, wenn sie wirklich verliebt sind, dann leben sie, als ob es den Tod nicht gäbe. Wirkliche Liebe lässt sich nicht mit dem Hinweis beeindrucken, das sei doch alles umsonst: Früher oder später müsse jeder in die Grube und dann sei Schluss mit der Liebe. Und deshalb lohne der ganze Aufwand an Gefühl, Zeit und Energie nicht.

Wahre Liebende weisen diesen Einwand lächelnd zurück. Sie trauen ihrer Wahrnehmung, dass hier etwas Großes geschieht, Größeres als sich aus Vernunft und Erfahrung ableiten lässt. Sie werfen nicht erst im Sterben, sondern mitten im Leben einen Blick auf diese Wirklichkeit, die weiter und größer ist als das, was der gesunde Menschenverstand fassen kann.

Diese ursprüngliche Religiösität ist echt, auch wenn sie nichts mit Kirche oder ausdrücklicher Religion zu tun hat. Sie ist nicht von der Angst vor dem Unvermeidlichen getrieben; eher von der Hoffnung, dass das Beste im Leben Bestand haben kann. Und dass wir dieser Wahrnehmung trauen dürfen.

Vielleicht geschieht das im Sterben: Es scheint nicht irgendeine diffuse Religiösität auf. Sondern wer in seinem Leben geliebt hat und geliebt wurde oder nach Liebe gesucht hat, erinnert sich im Sterben an diese größere Wirklichkeit, die den Tod nicht scheut. Nicht weil er nach einem Strohhalm sucht, sondern weil er die Wirklichkeit erkennt, weitet sich sein Blick.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17112
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