SWR2 Wort zum Tag

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Es läuft etwas falsch in unserer Gesellschaft. Reuelos sei sie geworden. Meint die Juristin und Psychotherapeutin Rotraud Perner in ihrem Buch „Die reuelose Gesellschaft.“ Und wenn ich an die vielen Skandale in den letzten Jahre denke: Sie scheint Recht zu haben.
Sünder gibt es viele, aber Reumütige? Es wird viel mehr Kraft und Energie aufgewandt, sich selbst zu rechtfertigen, anstatt ohne Ausflüchte seine Verfehlung einzugestehen, sich selbst und anderen gegenüber. Und diese um Entschuldigung zu bitten.
Allerdings; so neu ist das Phänomen der Reuelosigkeit doch nicht.
Von Rudolf Otto Wiemer gibt es ein älteres Gedicht. „Gegen Ausflüchte“ heißt es. Ein Gebet, in Gedichtform. Dafür, dass man sein Ego nicht mit Ausflüchten und reuelos versucht, sauber zu waschen. Stattdessen:

Klebe mir, Gott, den Mund nicht zu mit Unmut oder kindischem Trotzen, öffne …ihn der geläufigen Rechtfertigung nicht,
lass mich sagen unter allen, die schuldlos sich wähnen,
die hinter den Argumenten wie hinter Liguster, der ständig nachwächst, dreist sich verstecken,
lass mich…  heraustreten aus dem Gestrüpp,
lass mich nicht sagen: Gesellschaft
nicht: Vater und Mutter, nicht Verführung,
lass mich sagen, Gott: Ich bin schuld.

Ja, wenden Sie vielleicht ein: Reue zeigen vor Gott, das ist womöglich einfach. Bei Gott kann man auf Vergebung hoffen, wenn man an ihn glaubt. Aber kann man das heutzutage auch bei Menschen?
Es ist etwas daran an diesem Einwand, glaube ich. Unsere Gesellschaft ist vielleicht nicht nur reuelos, sie hat auch etwas Gnadenloses. Und wahrscheinlich sind das zwei Seiten derselben Medaille: Wenn ich fürchten muss, dass meine Reue gnadenlos beantwortet wird, dann suche ich vielleicht mein Heil hinter Ausflüchten und einer scheinbar sauberen Fassade.
Wie es anders geht, erzählt eine Geschichte aus der Bibel, ausgerechnet am Beispiel der Pharisäer(Joh 8):
Sie haben eine Frau beim Ehebruch erwischt und zerren sie vor Jesus. „Auf Ehebruch steht Steinigung. Was sagst Du dazu?“ fordern sie Jesus heraus. Und er: „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Und dann: Als sie das hörten, gingen sie weg, einer nach dem anderen, die Ältesten zuerst.“ Die Jungen wären wohl gnadenlos geblieben. Aber die Älteren erinnern sich ihrer eigenen Fehler. Und wissen: Wenn nicht mehr vergeben wird, wird das Leben heillos. Jeder Mensch braucht die klugen Anderen, die vergeben. Auch öffentlich. Vielleicht öffnet das auch denen den Mund, die etwas zu bereuen haben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17061
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