SWR2 Wort zum Tag

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Wie viele Skandale haben wir erlebt in den letzten Wochen und Monaten? Was wurde uns alles aufgetischt? Steuervorteile und Steuerhinterziehungen, erschlichene Doktortitel und Amtsmissbrauch. Da fallen Namen wie Christian Wulff und Carl Theodor zu Guttenberg, Alice Schwarzer und Uli Hoeneß. Und immer stehen Menschen in der Gefahr, ihr Gesicht zu verlieren.
Ein Image kann man aufpolieren und ein angeknackstes Prestige im öffentlichen Ranking wieder nach oben bringen. Doch Gesichtsverlust bedeutet gesellschaftliche Ächtung. Wer sein Gesicht verloren hat, zieht sich auf längere Zeit zurück – oder wird aus dem Verkehr gezogen.
Die Rede vom Gesichtsverlust hat ja etwas Surrealistisches. Stellen wir uns eine menschliche Figur ohne Gesicht vor. Da wäre an der Stelle des Gesichts nur eine leere Fläche. Die so dargestellte Figur wäre ein Niemand, ein unbeschriebenes Blatt. Sie könnte nicht mit einem Namen für sich einstehen noch irgendetwas ihr Eigen nennen. Man würde sie nicht wiedererkennen. Man könnte nicht mit ihr reden – in kein Gesicht schauen.
Gesichtsverlust ist die härteste Form sozialer Strafe. Und die Redewendung vom Gesichtsverlust drückt etwas aus von dieser Härte. Man spricht davon, wenn sich jemand eines eindeutigen Versagens schuldig gemacht hat. Zugleich steht dieser Redewendung aber eine andere Möglichkeit entgegen, als Chance sozusagen: dass nämlich solche Fehler und Vergehen nicht unverzeihlich sind, sondern bewältigt werden können – ohne das Gesicht zu verlieren.
Wie ist das möglich? Wohl nur, wenn die Persönlichkeit eines Menschen mehr ist als die Summe seiner Fehler. Und wenn ich bereit bin, dies anzuerkennen. Wenn ich bereit bin, das gesamte Bild seiner Person, das mir der Andere bietet, wahrzunehmen und gelten zu lassen. Wenn ich ihn nicht definiere, sondern offen bin für alle Facetten, die er mir zeigt.
Dann sehe ich nicht nur die Züge von Selbstsucht, Boshaftigkeit oder Betrug, sondern möglicherweise auch Züge der Einsicht und Reue. Ich sehe Verletzungen und Ängste, sehe Narben und Deformationen, sehe vielleicht auch Schönheiten und manches Liebenswerte. Ich sehe die ganze Rätsel-haftigkeit eines menschlichen Gesichts – möglicherweise so rätselhaft wie mein eigenes. Und ich lasse dem Anderen Raum, aus einer Sache heraus-zukommen – ohne zuvor schon das Gesicht verloren zu haben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17035
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