SWR3 Gedanken

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Wartezimmer beim Kinderarzt. Viele Kinder sind krank, wir müssen lange warten. Meine Tochter Emma hat Langeweile, also spielen wir ein Spiel. „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot“, kräht Emma. Nach gefühlten hundert roten Gegenständen, präsentiert sie mit strahlend die rote Schleife eines kleinen Teddybären, der im Regal sitzt. Stimmt, die habe ich echt nicht gesehen.
„Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Feines Spiel. Und zwar nicht nur im Wartezimmer. Mit meiner Freundin könnte ich das mal spielen. Die hat sehr scharfe Augen und sieht eine Menge Dinge. Vor allen Dingen bei sich selbst. Sie sieht ihre Schlupflider, ihre dünnen Haare und den Speck auf den Hüften. „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist strahlend“, könnte ich ihr sagen. Denn sie hat ein wunderbares Lächeln, bei dem die Sonne aufgeht. Ob sie das dann auch sehen würde?
Oder die berufstätige Mutter von drei Kindern, die mir ab und an ihr Leid klagt. Oft ist sie abgehetzt, kommt auf den letzten Drücker. Die Schultüte hat sie nicht selbst gebastelt, sondern gekauft. Und beim letzten Elternabend ist sie eingeschlafen. Was bin ich für eine Mutter, fragt sie sich. „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist stark“, könnte ich ihr sagen. Denn wer mit Beruf und drei Kindern all das überhaupt hinkriegt, der hat viel Stärke. Ob sie das dann auch sehen würde?
Wir sehen viel, aber wir sehen gern das Schlechte, das Unschöne. Dabei gibt es an jedem Menschen so viel Gutes, so viel Schönes. Nicht umsonst heißt es in der Bibel, dass Gott uns wunderbar gemacht hat, weil alle seine Werke wunderbar sind. Muss man halt auch sehen. Und wenn ich es mal nicht sehe, bin ich um jemanden froh, der sozusagen das gute alte Kinderspiel mit mir spielt: „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist Gottes geliebtes Kind.“

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