SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Nach einem langen Tag kommt Sandra nach Hause, macht sich etwas zu essen und gönnt sich dann ein Glas Wein. Und dann noch eins. Und dann noch eins. Einigermaßen betäubt fällt sie gegen Mitternacht ins Bett, schläft wie ein Stein. Am nächsten Tag spürt sie den Restalkohol, reißt sich zusammen und geht zur Arbeit. Und so geht das nahezu Tag für Tag.
Sandra hat ein Alkoholproblem. Aber außer ihr merkt das keiner. Wenn sie mit anderen zusammen ist, weiß sie, wann Schluss ist. In Beruf und Freizeit ist ihr Umfeld beeindruckt von ihrer Disziplin, ihrem Engagement, ihrer hohen Leistungsfähigkeit. Nur die vielen leeren Weinflaschen im Keller erzählen von einer anderen Sandra.
Die andere Sandra weiß nicht mehr, wie man sich entspannt, wie man abschaltet. Die andere Sandra leidet unter Erfolgsdruck und Versagensangst. Es ist weniger ihr Körper, der den Alkohol braucht, als ihr Geist. Der kommt erst zur Ruhe, wenn er benebelt und betäubt wird. Und das Abend für Abend.
Der Arzt stellt beim Gesundheitscheck fest, dass Sandras Leberwerte miserabel sind. Als das Wort „Alkohol“ fällt, bekommt Sandra einen hochroten Kopf und die Empfehlung, es mit einem Therapeuten zu versuchen. Das kostet Sandra Überwindung, aber sie schafft diesen Schritt.
Und siehe da, in vielen Gesprächen entdeckt Sandra, dass kein Mensch nur stark sein kann. Dass ihre Anspannung, ihre Ängste, ihre ganzen schwachen Momente Platz brauchen – und der findet sich nicht in einem Weinglas. Schwachstellen hat ein jeder Mensch. Sie verschwinden nicht, wenn man sie ersäuft. Wenn man sie akzeptiert, ist das ein erster Schritt aus dem Hamsterrad.
Mittlerweile hat Sandra ein paar Dinge in ihrem Leben geändert. Sie ist nicht mehr ganz so diszipliniert, engagiert und leistungsfähig. Aber wenn sie jetzt abends ein Glas Wein trinkt, dann nicht, weil sie es braucht, sondern weil es ihr schmeckt.

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