SWR4 Abendgedanken

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„Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, werdet ihr bestehen.“* Ein Satz aus dem Roman Kassandra von Christa Wolf.  Ein im wahrsten Sinne des Wortes „ver-rückter“ Satz, ein Satz, der das normale Denken ver-rückt, geradezu auf den Kopf stellt. „Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, werdet ihr bestehen.“ Normalerweise besteht der Sieger und der Verlierer geht unter. In unserer Gesellschaft zählen die, die gewinnen, wer verliert steht am Rande, für ihn ist kein oder zumindest immer weniger Platz. Jeder tut alles dafür, zu den Gewinnern zu gehören. Beim Kampf um den Arbeitsplatz, an der Börse, beim Sport, in der Schule, bei Wettkämpfen aller Art vom Schönheitswettbewerb bis zum Dschungelcamp: Immer geht es darum zu siegen. Aber genau das kann zum Untergang führen.

Wenn ich stets danach trachte, der Erfolgreichste, Schönste und Klügste zu sein, verliere ich schnell den andern und mich selbst aus dem Blick. Werte wie Freundschaft, Menschlichkeit und emotionale Nähe gehen unter. Und obwohl ich immer zu den Gewinnern zähle, mich einige deshalb vielleicht sogar bewundern, kann mein Leben menschlich immer ärmer werden.

„Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, werdet ihr bestehen.“ Ein toller Satz auch und gerade für den Sport. Er gibt Gelassenheit. Sieg ist keine Pflicht. Wenn er sich trotzdem einstellt, kann man sich darüber freuen. Und auch wenn man ihn verpasst, bleibt man trotzdem bestehen.  Diese Gelassenheit wünsche ich nicht nur den Athleten bei der Olympiade in Sotschi, sondern jedem von uns.

 * Christa Wolf. Kassandra. Süddeutsche Zeitung/Bibliothek 59. S. 131

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16959
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