SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Hier  s t e h  ich und ich kann nicht anders...“ Mit diesen Worten hat Martin Luther einst seine Kritik an der damaligen Kirche verteidigt – auf dem Reichstag in Worms – 1521. Vor den Mächtigen der Welt – vor Kaiser, Königen und Fürsten. Seitdem ist das so etwas wie eine protestantische Grundhaltung geworden. Ein Habitus: „Ich knie vor keinem Menschen, wenn es um die Wahrheit geht! Von niemanden lasse ich mich auf die Knie zwingen.“
Aufrechter Gang pur. Aber ist das alles?
Von Worms nach Warschau - anderer Ort, andere Zeit: 7. Dezember 1970.
Willy Brandt – Kanzler der Bunderepublik Deutschland – steht in Warschau vor dem Mahnmal zum Gedenken an den jüdischen Ghetto-Aufstand von 1943. Es ist nasskalt. Willy Brandt legt einen Kranz nieder. Er geht ein paar Schritte zurück. Verharrt schweigend. Und dann überkommt es ihn: Er kniet nieder - auf dem nassen Boden vor dem Mahnmal. Spontan. Aus sich heraus. Willy Brandt – der selber von den Nationalsozialisten verfolgt wurde –bittet auf Knien – stellvertretend für sein Volk – um Verzeihung für die Opfer deutscher Verbrechen im Zweiten Weltkrieg.
Wie kann ein Kniefall das Verhältnis zweier Völker verändern!
Egon Bahr, sein Wegbegleiter, erinnert sich: „Willy hat mir erzählt: Einfach nur den Kranz niederzulegen, schien mir auf einmal zu wenig.“
Warum ist Knien mehr als Kranzniederlegen und schweigend Dastehen?
Ich empfinde das Knien als spontane Geste der Demut.
Hier steht nicht das starke Deutschland, hier kniet ein Deutschland, das um seine Schuld weiß.
Das Foto vom Kniefall in Warschau ging um die Welt und wurde zur Quelle auch der Aussöhnung von Polen und Deutschen.
Für mich ist Willy Brandts Kniefall wie ein Augenöffner.
Und dann kam mir wieder in den Sinn: Luther hatte doch dazu geraten – morgens und abends - nach dem Aufstehen und vorm ins Bettgehen – das Vaterunser auf Knien zu sprechen.
Nach und nach entdecke ich für mich als Protestant das Niederknien:
Ich knie nieder vor Gott und es ist gerade so wie:
Ich schaue vor Gott mir selbst in die Augen.
Und sehe, wie klein ich bin. Wie fehlbar. Wie zerbrechlich.
Mir werden meine menschlichen Möglichkeiten und meine Unmöglichkeiten bewusst: Ich bin nicht nur der Macher. Ich bin unzulänglich.
Ich stoße immer wieder an meine Grenzen.
Das Format, das ich dabei vor Gott bekomme, ist heilsam für mich.
Da bläht sich nichts mehr auf. Und das entlastet. Aus Gernegroß wird Gerneklein.
Da danke ich auf Knien für alles Schöne, was ich erleben darf.
Da flehe ich um Verzeihung für alles, was ich verbockt habe.
Da bitte ich auf Knien für alle, die mir am Herzen sind.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16928
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