Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Alles, worüber ich geschrieben habe, kommt mir vor wie Stroh im Vergleich zu dem, was ich gesehen habe.“ Das Schönste im Leben kannst du dir nicht ausdenken. Du kannst es nur erleben.
Das hat einer gesagt, der berühmt war für seine dicken Bücher. Er hat den Glauben von vorne bis hinten durchbuchstabiert, die entlegensten Winkel der Religion erforscht und das ganze zwischen zwei Buchdeckel gebracht. Thomas von Aquin. Vielleicht der bedeutendste Theologe des Mittelalters.
So vollständig, bis in die letzten Winkel hinein, wurde die Religion noch nie erfasst. So schön, so perfekt wurde der Glaube noch nie dargestellt, sagten seine Zeitgenossen und haben ihn Doctor angelicus genannt: Engels-Doktor. Und weil es so schön ist, ist es auch wahr, denn das Schöne ist der Glanz der Wahrheit, sagte Thomas von Aquin. Die Worte flossen aus seinem Mund in die Feder seiner Sekretäre. Von denen beschäftigte er mehrere – und zwar nicht nacheinander, sondern gleichzeitig. Mit Hochdruck arbeitete er daran, seine Darstellung des christlichen Glaubens zu Ende zu schreiben. Eile war geboten, er war schließlich nicht mehr der Jüngste. Einige Themen am Schluss fehlten noch: Tod, Auferstehung, Ewigkeit. Auch darüber gab es unendlich viel zu sagen.
Doch plötzlich stellt Thomas von Aquin die Arbeit ein. Nicht nur vorübergehend, sondern endgültig. Das will was heißen. Thomas beschließt, dass sein Lebenswerk, diese riesige Übersicht über die weite Welt der Religion, nicht vollendet wird. Sie soll ein Fragment bleiben, zwar ein beeindruckendes, sehr weit fortgeschrittenes, aber doch ein Fragment.  Natürlich wird Thomas von Aquin gefragt, warum er so kurz vor dem Ziel abbricht und aufgibt. Er antwortet: „Alles, was ich geschrieben habe, kommt mir vor wie Stroh im Vergleich zu dem, was ich gesehen habe.“
Anscheinend hat Gott dem alten Thomas einen Blick in den Himmel gewährt. Und der merkt dabei: Unser Wissen ist Stückwerk und unser Reden ist Stückwerk. Dazu will er stehen. Er kann den Stift aus der Hand legen und seine Arbeit lassen. Das ist die Summe seines Lebens: Auch was unvollendet ist, kann schön und wahr sein.

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