SWR2 Wort zum Tag

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„Die Liebe glaubt alles, hofft alles und duldet alles“ – heißt es in der Bibel. Aber manchmal ist es auch gut, wenn die Liebe  aufhört zu dulden, und statt dessen feste auf den Tisch haut. Und deutlich macht: so geht es nicht mehr weiter. Der Schauspieler Alexander Granach, Jahrgang 1890 und neuntes Kind armer jüdischer Bauern, erzählt solch eine Geschichte. Acht Kinder hatten seine Eltern. Das Leben war hart, besonders für die Mutter. Sie stand früh auf, fütterte die Kleinen, grub den Garten um. Sie bediente im Kramladen, kochte für die zehnköpfige Familie, wusch die Wäsche und sank in der Nacht todmüde ins Bett. Vor lauter Arbeit war sie im Gegensatz zum Vater oft schlechter Laune. Kein Wunder, dass die Kinder ihren Vater sehr viel mehr liebten, der trotz seiner Arbeit immer Zeit für sie hatte.

Eines Tages wurde ihr  alles zu viel. Sie „legte sich am helllichten Tag in Bett“, weinte und wollte „entweder sterben oder sich scheiden lassen“. In solchen Fällen, erzählt Granach, kam ein alter Verwandter. Er sprach mit der Mutter am Bett, mit dem Vater auf dem Feld. Aber es nützte nichts.

Das ist das Risiko des Zusammenlebens: man lebt unter einem Dach, aber man verliert einander aus den Augen. Man funktioniert nur noch. Der eine macht die Steuererklärung, der andere sorgt dafür, dass die Kinder ihre Hausaufgaben nicht schleifen lassen. Der eine kümmert sich um die Wäsche, der andere macht die Rieseneinkäufe für die ganze Familie. Aber wirklich gemeinsam läuft da nichts mehr.  Bis es einen großen Krach gibt und man sich anschreit: „Bin ich deine Putzfrau?“

Am nächsten Tag, so erzählt Granach weiter,  fuhren seine Eltern in der Kutsche zum Rabbi, um sich tatsächlich scheiden zu lassen. Erst hier auf dem Weg, gelang es, ihnen vor Augen zu führen, dass sie einander viel mehr bedeuteten. Schließlich sagte der Vater  feierlich zur Mutter: „Du gehörst zu mir, bist nicht meine Magd, bist nicht meine Waschfrau, bist nicht meine Köchin und niemandes Gouvernante. Aber du bist meine Mutter, die Mutter meiner Kinder, und meine Schwester und mein Kind, und mein Freund in allen Nöten und Freuden, in alle Ewigkeit. Amen.“ Du gehörst zu mir: als Schwester und Bruder, als Freund und Freundin. Und – etwas verrückt, aber es stimmt – als Paar ist man sich gegenseitig auch manchmal Mutter oder Vater.

Aber dann war die Kutschfahrt zu Ende und die Arbeit ging weiter wie jeden Tag. Und doch anders. Denn im täglichen Trott war etwas aufgeleuchtet: ein Moment von Wahrheit und Liebe. „Die Liebe glaubt alles, duldet alles und hofft alles“ - auch, dass diese Momente der Wahrheit und Liebe alles andere überwiegen.

 

Alexander Granach, Da geht ein Mensch, 2007

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16755
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