SWR2 Wort zum Tag

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 Für viele Menschen ist der zweite Weihnachtsfeiertag der Tag der Rückreise. Das Fest ist gefeiert. Die Geschenke sind ausgepackt. Die Familie war wieder einmal beisammen. Nach der Nähe tut jetzt ein bisschen Distanz gut.
Rückreise in den Alltag also. Auch für die Hirten, die nach Bethlehem zur Krippe gekommen waren, ist das so. „Und die Hirten kehrten wieder um,“ heißt es in der Weihnachtsgeschichte, „priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten“. (Lukas 2, 20)
Gott zu loben für alles, was man an diesen Feiertagen gehört und ge-sehen hat - da stimmt mancher vielleicht nicht zu. Auch bei uns zu Hause, so erinnere ich mich, war dieses Fest immer mit einem gewissen Stress verbunden. Musikalische Auftritte in der Kirche waren zu meistern – verteilt über die Weihnachtsfeiertage. Die älteren Geschwister kamen mit ihren nicht unbedingt weihnachtskompatiblen Erlebnissen und Erfahrungen nach Hause. Als mein ältester Bruder, die gerade von Bill Haley erschiene Platte „Rock Around the Clock“ unter den Gabentisch legte, trug das bei meinem Vater eher nicht zur Steigerung des Weihnachtsfriedens bei.
Die vielen Verwandtenbesuche waren zwar schön, aber ebenso mit Anstrengung verbunden. So wie Familie oft anstrengend ist.
Heute denke ich dabei an die Parabel von den Stachelschweinen, die der Philosoph Artur Schopenhauer erzählt:
„Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nahe zusammen, um, durch die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammen brachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so dass sie zwischen beiden Leiden hin und hergeworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung von einander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.“
Der Philosoph beobachtet sehr genau, wie Menschen immer wieder voneinander  angezogen werden. Gerade das Weihnachtsfest ist so ein Kristallisationspunkt, wo sich Wünsche und Sehnsüchte nach Gemeinschaft und Familie verdichten.
Aber auch das wird nach kurzer Zeit sichtbar: die Kinder, die von fern angereist sind, sind mittlerweile erwachsen geworden. Sie haben andere Interessen entwickelt. Vieles im Familiengefüge hat sich geändert. Für manchen ist die Atmosphäre an diesen Feiertagen sowieso   zu emotional aufgeladen. So dass sich bald das Bedürfnis nach Abstand meldet.
Schopenhauer folgert aus seiner Parabel, dass es gilt, die „mäßige Entfernung“ herauszufinden. Die richtige Balance, bei der man sich nicht aneinander verletzt, aber doch einander verbunden bleibt.
Auf das richtige Verhältnis von Distanz und Nähe also kommt es an. In der Weihnachtsgeschichte, denke ich, ist es den Hirten und den anderen Beteiligten ähnlich ergangen.  Irgendwann haben alle die Aufregung rund um die Krippe  als anstrengend empfunden. Irgendwann wollten sie auch wieder nach Hause. Und alles in guter Erinnerung behalten.
Und dennoch –  das Erlebnis in Bethlehem hatte alle tief berührt. Sie wussten, auch wenn sie jetzt wieder gingen, die große Familie, die sich da um die Krippe versammelt hatte, würde für immer ihre Familie bleiben. Größer noch als ihre biologische Familie. Verbunden über Zeiten und Orte.
Wenn sie jetzt die Rückreise antreten würden, dann taten sie es in der Gewissheit, die Erfahrung an der Krippe, sollte ihnen in aller Zukunft nicht verloren gehen. Daran wollten sie sich immer erinnern.
In dieser Stimmung kehrten die Hirten wieder um und priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten. Und ich - schließe mich ihnen gerne dabei an.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16678
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