SWR2 Wort zum Tag

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Lektüre am Anfang des Neuen Jahres. Für mich gehört dazu ein Text des Schriftstellers Jehuda Amichai. Er trägt den Titel: Der Ort, an dem wir recht haben

An dem Ort, an dem wir recht haben,

werden niemals Blumen wachsen

im Frühjahr.

Der Ort, an dem wir recht haben,

ist zertrampelt und hart

wie ein Hof.

Zweifel und Liebe aber

lockern die Welt auf

wie ein Maulwurf, wie ein Pflug.

Und ein Flüstern wird hörbar

an dem Ort, wo das Haus stand,

Das zerstört wurde.

Das wäre es doch: mit Zweifel und Liebe ein neues Jahr beginnen. Mit Liebe Ja, aber mit Zweifel? Ist Zweifel nicht eher negativ? Wer zweifelt, ist unsicher, vielleicht misstrauisch; wer zweifelt, bezieht nicht Position, will sich nicht festlegen. Ich muß doch wissen, was ich glaube und was ich will. Und überhaupt: Beliebigkeit haben wir genug, gerade in Fragen der Religion!

Die Sätze von Jehuda Amichai klingen mir aber nicht beliebig, sondern sehr engagiert. Zweifeln, damit das Leben lebendig bleibt. Zweifeln nicht als Feigheit in der Wahrheitsfrage, sondern als ein Stück Weisheit, das die Grenzen des eigenen Erkennens sieht. Im Sinne von: Es kann anders sein, als ich denke, und es kann anders werden, als es ist.

Im Mittelpunkt von Weihnachten stand die Geburt eines Kindes. Kinder bringen das Leben durcheinander. Nichts ist wie es war. Gedanken, Gewohnheiten, Beziehungen verändern sich.

Deshalb passt dieser Text doppelt gut in die Zeit nach Weihnachten. Mit dem Bild eines Neugeborenen in ein neues Jahr gehen. Das heißt, mit der Offenheit, Dinge und Menschen anders zu sehen und manches auch anders zu machen als bisher. Das ist der Zweifel. Und die Liebe? Sie leitet den Zweifel, stärkt ihn manchmal, aber verwehrt ihm, blind zu zerstören, zu zerstören um seiner selbst willen. In Jehuda Amichais Gedicht wird das Haus bisheriger Sicherheit zerstört, am selben Ort flüstern leise wieder Stimmen, und es wird der feste Boden gelockert, damit im Frühling bunte Blumen blühen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16675
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