SWR2 Wort zum Tag

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Guten Morgen, liebe Hörerinnen, liebe Hörer. Ich wünsche Ihnen ein frohes, ein gesegnetes Jahr 2014. Beginnen möchte ich es heute morgen mit einem Text des Schriftstellers Said. Er ist 1947 in Teheran geboren und lebt seit fast 50 Jahren in München. Er nennt seine Gedichte Psalmen und knüpft damit an die biblischen Psalmen an, jene drängenden, hoch emotionalen Lieder, in denen Menschen sich mit dem, was sie umtreibt, an Gott wenden. Auch Said redet Gott direkt an.

herr

eile und vermenge die zeit mit dem raum

damit die raserei ein ende findet

lehre uns die demut des tigers

wenn er sich des nachts dem mond unterwirft

die großmut des löwen

wenn er seine verdauung genießt

ohne das getier unnütz zu reißen

die weisheit des esels

wenn er mit gleichmut die last der fremden trägt

ohne seine haltung zu verlieren

und schenke uns die einfältigkeit der margeriten

die sich auf jeden frühling freuen

ohne an den herbst zu denken und seine raffgierigen finger

                                                        (Said, Psalmen. München 2007, 13) 

Said kommt ohne Umschweife zum Punkt in diesem Psalm. Er drängt Gott, etwas gegen die „raserei“ zu unternehmen. Damit könnte er zunächst das Tempo unserer Zeit meinen: Hochgeschwindigkeitszüge, schnelle Internetverbindungen, auf und ab an den Börsen. Verkehr und Kommunikation laufen weit schneller ab, als Mensch und Natur verkraften können. Wenn Gott aber die Zeit mit dem Raum vermengt, wird die Raserei gebremst. Menschen und Natur können so vielleicht ein Tempo finden, das ihnen gut tut.

Lehre uns die Demut des Tigers – diese beiden Begriffe scheinen überhaupt nicht zusammenzupassen: ein Tiger und demütig. – Tatsächlich unterwirft sich auch dieses starke und königliche Tier den Gesetzen der Natur, hier in Gestalt des Mondes in der Nacht. Vom demütigen Tiger kommt Said zum großmütigen Löwen. Seine Raublust hat Pause, wenn er seine Verdauung genießt. Der genießende Löwe – ein Bild wie für ein Lifestylemagazin ist das. Und dieser Löwe reißt kein anderes Tier auf Vorrat. Er tötet nicht um des Tötens willen. Wenn seine Natur auf Verdauen eingestellt ist, dann verdaut er und lässt sich die noch so leckere potentielle Beute entgehen. Beide, der Tiger wie der Löwe, bescheiden sich aus ihrer Fülle heraus.

Und dann der weise Esel in seinem Gleichmut und seiner Würde. Für andere, noch dazu Fremde – Lasten schleppen, in aller inneren Ruhe, ohne sich zu ärgern, ohne gekränkt zu sein, ohne aufzubegehren und dabei nicht buckeln und sich nicht beugen lassen. Das ist Weisheit.

Zu guter Letzt die einfältigen Margeriten, die blühen und sich nicht die Freude am Blühen vermiesen lassen durch den Gedanken ans Welken.

Said stellt der Raserei das Maß entgegen. Tiger, Löwe, Esel und Margeriten, sie alle bescheiden sich.

Es klingt paradiesisch, was Said hier erbittet, und es erinnert an den ersten Schöpfungstag. Deshalb kann ich den Psalm von Said auch zu meinem Gebet an diesem ersten Tag des neuen Jahres machen:

herr

eile und vermenge die zeit mit dem raum

damit die raserei ein Ende findet

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16673
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