SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

05JUL2007
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Angela Merkel hat am Sonntag abend - so stell ich´s mir jedenfalls vor - zu ihrem Ehemann gesagt: Joachim, lass uns zur Feier des Tages eine Flasche Sekt köpfen. Der deutsche EU-Vorsitz ist vorbei, jetzt sind die Portugiesen dran. Ein kleiner, erleichterter Seufzer, und dann haben sich unsere Bundeskanzlerin und ihr Mann in den Garten gesetzt und in aller Ruhe die letzten Monate Revue passieren lassen. Klimagipfel, Heiligendamm, überzogene polnische Forderungen - da gibt es viel zu bilanzieren. Während dessen nahm sich Frank-Walter Steinmeier nach der symbolischen Stabübergabe an seinen portugiesischen Amtskollegen vor, erst einmal gründlich auszuschlafen. Seine Bilanz nach sechs Wochen EU-Vorsitz: erfolgreich, aber mit viel zu wenig Schlaf.
Kluge Menschen, das ist meine These, ziehen regelmäßig Bilanz und geben sich so Rechenschaft über ihre Entscheidungen. Manche tun es im stillen Kämmerlein ganz allein für sich, ich persönlich bevorzuge ein Gegenüber. Einen mir wohlgesonnenen Menschen, der in der Lage ist, mir auch kritisch gegenüberzutreten und - im Gebet - meinen Herrgott. Gott erscheint mir dabei nicht wie ein unbarmherziger Richter, der meine Taten und Untaten seziert und berurteilt. Vielmehr ist er ein Gesprächspartner, dem ich auch das anvertrauen kann, was mir einem Menschen gegenüber viel zu peinlich wäre. Diese Bilanz macht mich nicht klein, sondern sie stärkt mich. Auch dann, wenn mir Gott kritisch den Spiegel vorhält und mir im Gebet klar wird, dass ich wohl einen falschen Weg eingeschlagen habe. Schließlich beurteilen mich auch andere Menschen, ob mir das passt oder nicht. Ihrer Kritik kann ich dann gelassen begegnen, wenn ich zuvor schon selbst Bilanz gezogen habe und weiß: sie haben recht. Oder auch: Selbst wenn sie es nicht akzeptieren können, ich muss meinen eigenen Weg gehen.
Ich kenne einen vielbeschäftigten Mann, der sich für dieses Gespräch mit Gott sogar täglich eine ganze Stunde gönnt. Viel Zeit für jemanden, der mit jeder Minute rechnen muss. Aber ich bin mir sicher, dass er dadurch seine Entscheidungen klarer und bewusster und transparenter für sich und andere treffen kann. Die Stunde Zeit, die er sich jeden Tag für seine Bilanz nimmt, die zahlt sich für ihn aus. Wieviel Zeit geben andere dafür her, verfehlte Entscheidungen wieder mühsam zu revidieren oder sich mit Zweifeln zu plagen, ob ein Weg tatsächlich der richtige war. Mit einer ehrlichen Lebensbilanz kann man auch ruhig einschlafen. Solch einen guten Schlaf wünsche ich unserem Außenminister.
Sündige tapfer, sagte Martin Luther, aber glaube noch tapferer an Christus und freue dich - auch ein Rat, der nur dann sinnvoll ist, wenn man zuvor aufrichtig Bilanz gezogen hat. Diese Aufrichtigkeit in Ihrer eigenen Lebensbilanz und Tapferkeit für ihr Leben wünscht Ihnen,
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