SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Haben der Advent und die Politik etwas miteinander zu tun? Ich glaube schon. Die Verhandlungen über einen Koalitionsvertrag und die Bildung einer Regierung in unserem Land fallen gerade in die Adventszeit, und das wirft für mich  bedenkenswerte Fragen auf. Advent bedeutet theologisch betrachtet eine kaum fassbare Vision, nämlich auf einen neuen Himmel und eine neue Erde zu hoffen. Die Politik hat freilich engere Grenzen als der Glaube. Aber haben wir denn noch gesellschaftliche und politische Visionen, die weiter reichen als Parteieninteressen und aus der Not geborene Kompromisse, die weiter reichen als der nächste Wahltermin? Bedeutet uns das Unerwartete noch etwas, das Unverfügbare, das nicht bis ins Letzte zu regeln ist? Rechnen wir noch mit Entwicklungen, die alle noch so durchdachten Konzepte zur Makulatur machen können?

Wir erleben in diesen Wochen ein zähes Ringen um parteipolitische Positionen, ein fast verbissen wirkendes Bedürfnis, möglichst viele Dinge bis ins Detail so abzusichern, dass jedes Risiko vermieden wird. Aber bleiben denn dabei die Fragen und Hoffnungen noch im Blick, die die meisten Menschen bewegen: Wie gestalten wir eine Gesellschaft, die allen gerechte Chancen gibt und möglichst niemanden an den Rändern zurück lässt? Wie sieht die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen aus? Können wir in Sicherheit leben und dabei unsere Freiheitsrechte wahren? Wie gastfreundlich nehmen wir Menschen aus anderen Ländern, Kontinenten  und Kulturen auf? Werden wir der Verantwortung für ein gemeinsames Europa gerecht, in dem auch schwächere Staaten gewürdigt werden? Welchen Beitrag leisten wir für den überall bedrohten Frieden auf der Welt? Wie bewahren wir die Schöpfung, so dass auch noch unsere Kinder und Kindeskinder die Erde bewohnen können?

Dies alles muss politisch gestaltet werden, wenn es denn gewollt ist. Und dabei bleibt doch immer der Vorbehalt, dass alles ganz anders kommen kann als erwartet und geplant. Im Guten hat uns das der Weg zu einem vereinten Europa gezeigt und der Fall der Mauer vor 24 Jahren. Beides war völlig unvorstellbar nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Im Schlechten zeigt uns das die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise oder die Katastrophe von Fukushima.

Was will ich sagen? Wir brauchen die kreative Kraft für Visionen, und wir brauchen Hoffnung, die weit über das Hier und Jetzt hinausreicht. Sonst erstarrt alles im Gestrüpp tagesaktueller Interessen. Und: Wir müssen so demütig sein zu sehen, dass sich nichts im Leben bis ins Letzte regeln lässt – auch nicht durch den Staat und die Politik. Es muss immer freien Raum geben für den Wandel, das Offene, das Neue. Das verbindet den Advent und die Politik.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16533
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