SWR2 Wort zum Tag
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Advent – das ist Zeit der Hoffnung. Offen sein für Neues, Unerhörtes, noch nie Erlebtes, das dennoch als tiefe Sehnsucht unlösbar zu uns gehört. Hoffnung, auch wenn alle Realität zu widersprechen scheint. Hoffnung, die uns wachsen lässt als Menschen, als Mitmenschen – über alles Berechenbare und scheinbar Vernünftige hinaus.
Bei der jüdischen Dichterin Rose Ausländer lese ich ein Gedicht, das ich in diesem Sinn als Adventsgedicht bezeichnen möchte. Es trägt die Überschrift Wachsen dürfen.[1]
Hören Sie:
Eine Insel erfinden allfarben wie das Licht
| Sie bitten uns aufzunehmen in Gärten
|
In seinem Schatten willkommen heißen die Erde
| wo wir wachsen dürfen brüderlich Mensch an Mensch
|
Wunderschöne Bilder des Glücks und des Friedens enthält dieses Gedicht: Eine Insel voller Farben wie das Licht. Ein Licht aber, das nicht blendet, den Augen weh tut und Angst macht, sondern das wie Schatten wirkt, erholsam und wohltuend. Eine Erde, die wir uns nicht untertan machen, sondern die wir bitten, uns aufzunehmen. Der Garten – uraltes Symbol eines paradiesischen Lebens, aus dem wir nicht vertrieben und einander fremd und zu Feinden werden, sondern in dem brüderliches, geschwisterliches, versöhntes Menschsein entstehen kann. Gewiss: diese Insel gelte es zu erfinden, sagt Rose Ausländer. Keiner hat sie je gesehen oder erlebt. Und doch entsteht sie in unserer Vorstellungskraft als Bild einer Sehnsucht und einer Hoffnung, die tief in uns verankert ist.
Ich fühle mich erinnert an ein berühmtes Wort des Philosophen Ernst Bloch: Er spricht einmal von „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“[2]. Wir sind oft versucht, das Ziel dieser Sehnsucht hinter uns zu suchen, es im Vergangenen oder im Bestehenden festzuhalten. Das lässt uns erstarren. Ich glaube, dass dieses Ziel immer vor uns liegt. Es will sich von uns suchen lassen, es will in unserer Vorstellungskraft lebendig sein. Ein Leben lang dorthin auf dem Weg zu bleiben – das lässt uns wachsen. Und das heißt Advent.
[1]Rose Ausländer, Wachsen dürfen, in: Regenwörter. Gedichte, hg. v. Helmut Braun, Stuttgart 2007, 84.
[2]Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Wiss. Sonderausgabe Bd. 3, Frankfurt a. M. 1968 (1959), 1628.