Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Es gibt Gedenktage, die sind einfach schön. Und dann gibt es welche, die machen klug. Der heutige 9. November ist so ein Tag. Als Reichskristallnacht ist er in die Geschichte eingegangen.
Heute vor 75 Jahren haben über 1400 Synagogen und jüdische Gebetshäuser gebrannt. Damals sind die Leute auf der Straße gestanden und die Kinder haben gefragt, warum die Feuerwehr nichts tut, nur die angrenzenden, nichtjüdischen Häuser schützt. Niemand, niemand hat etwas gesagt, keiner hat eine flammende Rede gegen die Brandstifter gehalten. Erst waren es Bücher, dann Synagogen und am Ende waren es Menschen, die verbrannt wurden. Die Reichskristallnacht war der Anfang vom totalen Krieg gegen die Juden.
Es ist ein sehr dunkles Kapitel unserer Geschichte. Warum schlagen wir das jedes Jahr wieder auf? Kann man es nicht auch mal gut sein lassen mit der Schuld der Deutschen? Fragen manche.
Vor ein paar Jahren war ich in Israel – Palästina. Und dort habe ich eine Antwort auf diese Frage bekommen. Aus dem Mund von Palästinensern, die hinter der 8 Meter hohen Mauer leben und unter der Besatzungsmacht der Israelis leiden. Sie haben zu mir gesagt:
„Euch Deutschen, euch trauen wir am meisten zu, zwischen uns und den Juden zu vermitteln.“ Ich habe sie ziemlich verwirrt angeschaut. „Wir Deutsche? Ausgerechnet wir?“ Und sie haben gesagt: “Genau. Weil ihr wisst, wie das ist, wenn man schuldig wird. Weil ihr gelernt habt, mit der Schuld zu leben. Deshalb könnt ihr vermitteln.“
Damals habe ich zum ersten Mal gespürt, dass das etwas Würdevolles hat. Zu seiner Schuld zu stehen. Sich nicht rauszureden von wegen: ich war nur Opfer. Oder: ich hab nichts gewusst. Nein: ich hab es getan. Das Volk, in dem ich lebe, war fähig, so etwas zu tun. Aus den Erfahrungen am 9. November kann man klug werden. Und bescheiden. Als Mensch und als Volk.

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