SWR4 Abendgedanken

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– St. Martin und der Bettler  

Heute feiern wir St. Martin. Die Kinder gehen durch die Straßen, Laternen leuchten. Wir haben die Geschichte von St. Martin schon oft gehört. Ich will mich heute mal in die Rolle des Bettlers am Straßenrand versetzen:

Es ist eine kalte und dunkle Nacht. Ein Obdachloser kauert am Straßenrand. Schon oft wurde er weggejagt. Keiner will ihn auch nur vor seiner Haustür haben. Da hört der Obdachlose Pferdehufe auf der Straße. Kein Pferd eines Bauern, sondern ein richtiges Schlachtross. Schnell kommt es näher. Da sieht er den Soldaten auch schon, es ist ein römischer Offizier. Der Obdachlose weicht zurück und drückt sich an eine Hauswand.

Da bleibt das Pferd auf einmal stehen. Es bäumt sich kurz auf. Der Mann auf der Straße hat Angst. Er zittert. Was will der Soldat? Habe ich etwas falsch gemacht? Werde ich jetzt eingesperrt?

Der Offizier steigt ab und zieht sein Schwert. Der Obdachlose zieht den Kopf ein. Er will schon sein letztes Gebet sprechen.

Doch es kommt anders: Der Reiter zerschneidet wortlos seinen roten Offiziersmantel. Ein Zeichen von Macht,  das nur wenige tragen dürfen. Ein Zeichen seiner Würde und Tapferkeit. Die Hälfte des Mantels legt der Offizier dem Obdachlosen fürsorglich um die Schultern.

So schnell wie er  gekommen ist, reitet er schon wieder weiter. Keine großen Worte, keine lange Predigt. Der Obdachlose kann es nicht fassen. Aber der Mantel ist da und wärmt ihn.

Wenn heute St. Martin gefeiert wird, braucht es auch nicht viele Worte. Der Mantel spricht für sich. Der heilige Martin erklärt nicht, was er tut. Aber der Obdachlose wird gespürt haben: Hier sieht mich jemand mit anderen Augen. Hier gibt jemand etwas weiter – vielleicht ist es Gottes Liebe.

Martin hat sich auf diese Begegnung nicht vorbereitet. Er hilft spontan. Was aus dem armen Mann im Schnee geworden ist, wissen wir nicht. Sicher ist: Für den Obdachlosen ging es in dieser Nacht um Leben und Tod. Wahrscheinlich hat der Heilige Martin ihm das Leben gerettet. Doch auch für Martin stand viel auf dem Spiel: Seinen Mantel hatte er zerschnitten. Nun gibt es kein Zurück mehr. Seine Karriere bei den Soldaten ist beendet.

Martin fühlt sich zu anderen Dingen berufen. Er will nicht nur seinen Mantel, sondern auch sein Leben mit den Armen teilen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16373
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