SWR2 Wort zum Tag

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Ich kann es mir nicht vorstellen, wie es ist, auf der Flucht zu sein. Aus der vertrauten Landschaft, der Sprache und Kultur fliehen zu müssen um des nackten Lebens willen. In Ländern Zuflucht nehmen zu müssen, in denen ich nicht willkommen bin, sondern zu viel, einfach zu viel.
Die Nachbarstaaten Syriens haben selbst mit Armut und Wassermangel zu kämpfen. Gewiss, da werden die fast 2 Mio. Menschen, die aus Syrien geflohen sind, vielleicht noch verstanden, atmen sie dieselbe Luft, spüren sie noch die Landschaften, in denen sie lebten. Aber wenn sie dort nicht bleiben können? Dann geht die Flucht weiter, bis nach Europa. Um dort erst recht zu hören: Ihr seid zu viele. Dabei kommt überhaupt nur ein Bruchteil der Flüchtlinge zu uns.
In meiner Nachbarschaft sind innerhalb von einem halben Jahr zwei Flüchtlingsunterkünfte entstanden. Viele Nachbarn waren hilfsbereit. Als Kinderfahrräder, Bettzeug und Kleidung gesucht wurden, war alles sofort da. Zugleich gibt es auch andere Reaktionen: Misstrauisch werden die fremden jungen Männer beobachtet, ob sie Tüten mit Bierflaschen ins Haus schleppen. Es entsteht Gerede: Viele hätten ihr Geld in teuren Smartphones angelegt. Man kontrolliert sie: Sind sie dankbar genug? Wie gehen die Kinder mit den geschenkten Fahrrädern um? Verhalten sie sich so, dass sie nicht auffallen? Die Flüchtlinge sind Fremde. Das spüren sie, die Zeichen des Willkommens werden immer wieder von bitteren Erfahrungen getrübt.
Mitleid und Hilfsbereitschaft auf der einen Seite, Misstrauen und Befremdet-Sein auf der anderen: Die Trennlinien zwischen diesen beiden Haltungen lassen sich nicht immer so scharf ziehen, wie ich es gerne von mir und uns Christen hätte. Fremdheit lässt sich nicht von heute auf morgen überwinden. Menschen verstehen sich nicht einfach so, nur weil das jetzt sein muss. Sprache und Herkunft sind Barrieren, deren Überwindung viel Mühe kostet. Wenn Hilfesuchende von den Helfern abhängen, gibt es ein Gefälle. Die einen haben Macht, die anderen müssen bitten.
„Gott, du bist meine Zuflucht für und für" (Ps.90,1) heißt es in einem Psalm. Das ist ein Gebet nicht nur für den, der fliehen muss, sondern auch für mich, für alle, die es lesen. Für alle, die Flüchtlinge aufnehmen und ihnen Hilfe gewähren möchten. Denn erst wenn ich mich selbst als bedürftig begreife und nachzuempfinden versuche, wie es wohl sein mag, allem ausgeliefert zu sein, werde ich mit meiner Macht, helfen zu können, vorsichtig umgehen. Und achtsamer den Menschen begegnen, die als Fremde auf ihrer Flucht bei uns ankommen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16287
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