SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Wer Angst hat läuft entweder davon oder wird aggressiv. Wie oft habe ich das schon erlebt: Dass ich zum Angriff übergehe und einen anderen zu Unrecht beschuldige oder etwas sage, was mir nachher leid tut. Vor lauter Angst. In einer Begegnung vor kurzem ist es mir wieder eindrücklich bewusst geworden.
Zusammen mit einer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin habe ich Sandbilder aus Ihrer Praxis angeschaut. Sandbilder sind kleine Szenen aus Spielfiguren, die bei einer Therapiesitzung in einem Sandkasten aufgebaut werden. Erzählen die Kinder dabei, warum sie das jetzt so und nicht anders machen? frage ich die Therapeutin. Nein, sagt sie, manche werfen stumm die Jacke in die Ecke und fangen sofort an, ihre Szene zu bauen. Kann sein, sie sagen: Du kannst mir zuschauen, aber sei still.
Zum Beispiel dieses: Eine Art Mauer geht quer durch den Sandkasten. Die eine Spielfigur, eine Löwin, ist auf der einen Seite aufgestellt. Ihr Löwenkind  steht ganz dicht dabei. Auf der anderen Seite hat das Kind einen großen Alligator aus Plastik gesetzt. Die Spielfiguren diesseits und jenseits der Sandmauer können sich nicht sehen, sie ist zu hoch. Nur der Betrachter erkennt die Gefahr.
Die Therapeutin erklärt: Das Sandbild ist im Laufe einer Therapie entstanden, bei der Eltern, die sich getrennt hatten, Hilfe für ihr Kind gesucht haben. Das Kind wurde immer aggressiver, bekam Tobsuchtsanfälle, ließ sich nicht mehr beruhigen. Beide Elternteile waren keine Ungeheuer, im Gegenteil: Sie waren jeweils um das Wohl ihres Kindes sehr besorgt. Aber sie waren spürbar uneins miteinander. Ein Elternteil schilderte den jeweils anderen jenseits der Sandmauer wie eine unsichtbare, aber irgendwie anwesende Bedrohung. Das Kind konnte mit dem Sandbild seine Angst und Aggression ohne Worte oder Schreien ausdrücken.
Was hilft gegen die Angst? Ich brauche Worte, in die ich sie für mich fassen kann, gesprochene oder gesungene. Das ist meine Therapie gegen das Aggressiv-Werden vor lauter Angst. Ich leihe mir Sprache zum Beispiel aus den Psalmen der Bibel: „Sie wollen Unheil über mich bringen!" klagt der Psalmbeter. „Mein Herz ängstigt sich in meinem Leibe, und Todesfurcht ist auf mich gefallen." (Ps.55,4f). Und wenig später: „Dass sie doch lebendig zu den Toten fahren, denn es ist lauter Bosheit in ihnen." (Ps.55,16) Angst und Aggression haben Platz in diesen Worten. Im Nachsprechen und Singen kann sie bei Gott lassen, so wie der Psalmbeter, der alles in sie hineinlegt, was ihn erschüttert.
Starke Worte. Gott hält das aus.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16286
weiterlesen...