SWR2 Wort zum Tag

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„Das wichtigste Sakrament der Christen ist das Sakrament der Begegnung". Diesen Satz fand ich im Buch „Die Zeichen der Zeit" von Jean Vanier. Jean Vanier ist Gründer der ‚Arche', einer internationalen Bewegung mit Wohngemeinschaften von behinderten und nicht behinderten Menschen. Behinderte Frauen und Männer leben hier mit Menschen zusammen, die sie in ihrer Würde als Person anerkennen und den behinderten Menschen helfen, sich selbst mit dieser Würde zu sehen und anzuerkennen. Vom ‚Sakrament der Begegnung' spricht Jean Vanier auf Grund der Erfahrungen, die solche Gruppen machen können.

Denn es ist und bleibt ja immer von neuem ein Wunder, wenn Menschen sich offen begegnen, ohne ihre Schwächen und ihre Verletzungen zu verbergen. Es ist ein Wunder, wenn diejenigen, die in den Augen der Gesellschaft die Schwächeren sind, den anderen, den Stärkeren, erst einen Zugang zu ihrem eigenen Menschsein ermöglichen. Diese Begegnungen bewirken, dass Menschen, einer durch den anderen, wechselseitig, wachsen und sich zum Leben bringen. Damit bezeugen sie die Gegenwart des Schöpfers, der die Fülle des Lebens für seine Geschöpfe will.

Was braucht es für solche Begegnungen? Gibt es dafür eine Methode? Ein unfehlbares Verfahren, eine Technik? Jean Vanier macht auf etwas ganz anderes aufmerksam. ‚Ich verberge nicht, dass ich mir keine besondere Bedeutung zumesse, dass ich in vielem nicht so begabt bin wie andere'. Das heißt positiv: ich möchte andere kennen lernen; ich interessiere mich dafür, wie sie sehen und leben; ich höre ihnen gerne zu; und ich habe das Gefühl, dass ich bei allem, was ich höre, etwas Neues hören kann. Das ist ganz alltäglich, und scheint banal. Aber nur in den winzigen alltäglichen Begegnungen mit dieser Offenheit können Menschen sich entfalten, wachsen und aufblühen.

Eigenartig ist, dass solche Begegnungen mit Menschen erlebt werden, die, an den gesellschaftlichen Normen von Erfolg und Schönheit gemessen, nicht die ersten Plätze belegen. Sie bauen keine Fassade auf, sie sind schutzlos, und so lässt sich erkennen, wie einzigartig sie sind. Die sogenannten Starken auf den „ersten Plätzen", die sozial weiter oben stehen und die glänzen wollen, sind kaum als sie selbst, in ihrer Einzigartigkeit, zu erkennen. Der letzte Platz steht gerade für die Chance einer Begegnung, in der sich Menschen wechselseitig entdecken und dabei entfalten können.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16254
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