SWR2 Wort zum Tag

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Als ich siebzehn war, hielt ich meinen Vater für den dümmsten Menschen unter der Sonne. Als ich zwanzig war, staunte ich, wie viel der alte Mann in so kurzer Zeit dazugelernt hatte. Heute bin ich 35, und manchmal frage ich ihn sogar um Rat!
Das stammt von Mark Twain. Ich mag dieses Zitat, weil es auf spritzige Weise das Erwachsen-Werden beschreibt. Es ist ja in Wirklichkeit nicht der Vater, der dazulernt, sondern der Sohn oder die Tochter. Je größer sie werden, desto mehr können sie sehen, desto großer wird der Überblick, das Verständnis für die Eltern. Ein Kind hat häufig das Gefühl, dass Eltern völlig sinnlos agieren, etwa wenn sie bestimmte Dinge regeln oder ganz verbieten. Auch mir ging das so. Noch als Jugendlicher in meinen Eltern oft nur die Menschen, die durch ihre Regeln meine Freiheit beschnitten. Heute kann ich vieles nachvollziehen, ich verstehe, dass sie mich schützen, mir Leid ersparen wollten. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich eine Regel, die ich früher für völlig überflüssig hielt, im Hinblick auf meine eigenen Kinder für vernünftig halte. Meine Eltern sind mir dadurch dadurch in gewisser Hinsicht zu Geschwistern geworden.
Auch der Glaube an Gott muss erwachsen werden. Ganz oft sehen wir Menschen Gott mit den Augen eines Kindes. Wir verstehen nicht, dass er uns Grenzen setzt, die einengen und wehtun. Wir erfahren ihn als den, der nicht alle Wünsche erfüllt, ja der uns ungerecht behandelt. Und wir reagieren mit Zorn und Ablehnung.
Auch da ist es wichtig, dass der Blickwinkel sich weitet, dass ich Gott verstehen lerne, zumindest ansatzweise.
Es stimmt, dass Gott Grenzen setzt – etwa in den Geboten. Aber der Glaube lernt, dass sie das Leben nicht ersticken, sondern schützen und Entfaltung ermöglichen.
Es stimmt auch, dass Gott nicht alle Wünsche erfüllt, nicht allen Bedürfnissen gerecht wird. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass es gut so ist. Ich höre auf, nur um meine Wünsche kreisen, bekomme ein Gespür für das, was wirklich wichtig ist im Leben.
Erwachsen werden im Glauben, Gott immer besser kennen und verstehen lernen?
Das ist sicher nur begrenzt möglich. Gott ist und bleibt letztlich ein Rätsel. Und doch redet er mit mir. Verändert meinen Blickwinkel. Fordert mich heraus.
Als mein Glaube noch sehr jung war, hielt ich Gott für streng und humorlos.
Als mein Glaube älter wurde, verstand ich ihn immer besser.
Heute frage ich ihn um Rat, sooft es geht. Und obwohl er mein Vater ist, reden wir doch manchmal wie Geschwister miteinander.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=1624
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