SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Dass ein Tag aus Abend und Morgen besteht, ermöglicht eine neue Weltsicht
„Da wurde aus Abend und Morgen ein neuer Tag." Dieser Satz steht gleich auf der ersten Seite der Bibel. In der Erzählung von der Erschaffung der Welt. Jeder einzelne Tagesbericht wird abgeschlossen mit dem Satz. „Da wurde aus Abend und Morgen der erste, der zweite, der dritte Tag, usw. Ein Tag also: nicht vom Morgen bis zum Abend. Sondern vom Abend bis zum Morgen.
Ich erlebe das anders. Wenn ich am Ende des Tages das Licht ausmache und mich schlafen lege, dann ist ein Tag vorbei. Morgen, so denke ich dann, beginnt wieder ein neuer. Der biblische Bericht verschiebt diese Reihenfolge. Erst der Abend. Dann der Morgen. Im Judentum ist das bis heute so. Da beginnt der neue Tag am Abend. Genauer gesagt genau dann, wenn drei Sterne mit bloßem Auge zu erkennen sind.
Der neue Tag beginnt nach dieser Tradition also in der Dunkelheit. Und führt hinein ins Licht. Mich fasziniert diese Vorstellung. Sie hat für mich etwas Wohltuendes und etwas Bergendes. Warum? Für eine begrenzte Zeit ist die Dunkelheit bestimmend und herrschend. Aber sie ist nicht das Letzte. Sondern das Erste. Sie geht vorüber. Und muss am Ende dem Licht ihren Platz räumen
Die Erkenntnis, dass aus Abend und Morgen ein Tag wird, ist wie Gleichnis. Wie ein Bild, von dem eine heilende Kraft ausgeht. Wenn mir alles über den Kopf zu wachsen droht. Wenn mir ein Mensch sehr zusetzt. Oder eine Krankheit. Wenn ich traurig bin und den Silberstreif am Horizont nicht sehe, dann ist das der Anfang. Und nicht das Ende. Daraus kann dann immer noch ein neuer Tag werden. Ein neues Ganzes. Aus dem dunklen Beginn. Und dem sich Bahn brechenden Licht, das erst zaghaft kommt. Und sich immer mehr durchsetzt.
Ich weiß: Schweres und Leichtes wechseln sich im Leben nicht automatisch und verlässlich ab wie der Rhythmus von Nacht und Tag. Manchmal will die Nacht fast nicht zu Ende gehen. Ich meine nicht nur die Nacht, die ich im Bett verbringe. Sondern auch die Nacht, die für belastende und schwere Zeiten im Leben steht. Aber auch da wechseln sich Nacht und Tag ab. Fast in jedem Menschenleben machen sie das. Daran erinnert mich dieser Satz. Vor allem dann, wenn wieder einmal die Dunkelheit dominiert. Dann hilft mir die Erinnerung an diese ersten sechs Tage der Schöpfung weiter. „Da ward aus Abend und Morgen ein neuer Tag!" Ich wünsche Ihnen heute einen solchen Morgen, der die Nacht wirksam vertreibt

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