SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

„Jesus wäre nicht zur Wahl gegangen." Ein Bekannter hat mir das vor ein paar Tagen in einer e-Mail geschrieben.
Ich war etwas verwundert und habe zurückgefragt, wie er darauf kommt. Seine Antwort: „Ist doch egal, welche Partei ich wähle. Es ändert sich eh nichts."
Ok, ich kann seine Enttäuschung in manchen Punkten nachvollziehen. Mir gefällt auch nicht alles, was in unserem Land entschieden wird.
Da werden immer wieder auch Gesetze erlassen, die mir gegen den Strich gehen, weil sie meiner Lebenseinstellung und meiner Weltsicht widersprechen.
Gesetze, die sich nur schwer oder gar nicht mit Gottes Geboten vereinbaren lassen. Darüber bin ich enttäuscht, und es ärgert mich. Aber deshalb nicht wählen gehen?
Nein, das kommt für mich nicht in Frage. Ich bin dankbar, dass ich in einer Demokratie lebe und nicht in einer Diktatur oder in einer Ein-Parteien-Regierung - wie fast die Hälfte der Weltbevölkerung.
Ich bin dankbar, dass ich mitbestimmen darf, wer bei uns den Ton angibt. Dafür haben Generationen vor uns gestritten und gekämpft, dass sie frei wählen dürfen. Das lass ich mir doch nicht nehmen. Darum gehe ich heute zur Wahl. Aus Überzeugung.
Und ich denke: Auch Jesus hätte die Wahl nicht boykottiert. Auch Jesus wäre wählen gegangen. Wie ich darauf komme?
Jesus wurde einmal gefragt, wie er zur Regierung steht. Da hat er gesagt: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser zusteht, und Gott, was Gott zusteht!"
Das heißt doch für uns heute: Gebt der Demokratie, was der Demokratie zusteht. Also nehmt Euer Wahlrecht wahr.
Ich gebe ja gerne zu: Wer die Wahl hat, hat auch die Qual. Die ideale Partei gibt es wohl nicht.
So ist das eben in einer Demokratie. Da muss die Politik den Kompromiss suchen. Da geht es um Mehrheiten - und das ist nicht immer das, was ich richtig finde.
Aber wenn ich schon keine ideale Regierung wählen kann, dann will ich doch wenigstens das „kleinere Übel" wählen. Auf jeden Fall will ich die Entscheidung darüber, wer uns regiert, nicht den anderen überlassen.
Nein, da will ich meine Stimme schon mit in die Waagschale werfen, will mitbestimmen, wer in den nächsten vier Jahren den Kurs bestimmt.
Nicht wählen gehen ist in meinen Augen keine gute Alternative. Niemand kann seine Hände in Unschuld waschen, nur weil er sich nicht an der Wahl beteiligt. Wer keine Stimme abgibt, wählt auch.
Eine Demokratie spiegelt wider, was das Volk denkt und was ihm wichtig ist. Darum will ich mein Wahlrecht nutzen.
Ich will dem Kaiser geben, was dem Kaiser zusteht. Oder besser gesagt: Ich will der Demokratie geben, wovon die Demokratie lebt: Meine Stimme. Ich finde: Das bin ich ihr schuldig.

Ich gehe heute zur Bundestagswahl. Das bin ich als Bürger unserem Land schuldig. Und noch etwas will ich tun. Ich will für unsere Politiker beten.
Ich will dafür beten, dass die Regierenden gute und richtige Entscheidungen treffen zum Wohl der Menschen und in der Verantwortung vor Gott.
Politik ist ein kompliziertes Geschäft. Wer weiß denn immer, was die richtige Entscheidung wäre?
Was ist denn wirklich gut für unser Land? Was würde denn den Menschen in Europa wirklich helfen? Oder was müsste man tun, damit es in unserer Welt gerechter und friedlicher zugeht?
Das alles ist so kompliziert und die Interessen sind oft ganz gegensätzlich. Wenn ich ehrlich bin: Was wirklich gut für uns ist und was uns weiterbringen könnte in unserem Land, das weiß ich oft gar nicht. Wissen Sie es?
Und ich denke, es geht den Mächtigen in unserem Land manchmal ganz ähnlich. Ich bezweifle, dass sie die Tragweite ihrer Entscheidungen immer abschätzen können.
„Da hilft nur noch beten", sagen viele, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Aber was heißt hier „nur noch". Da hilft beten. Davon bin ich überzeugt.
„Das Gebet ersetzt zwar keine Tat. Aber das Gebet ist eine Tat, die durch nichts ersetzt werden kann", hat ein früherer Landesbischof gesagt.
Ich muss da etwa an die Zeit denken, als Deutschland noch ein geteiltes Land war. Die Menschen im Osten sind immer unzufriedener geworden mit ihrer Lage.
Da haben sich einige getroffen zum Gebet - montags in der Leipziger Nikolaikirche und auch anderswo. Im Laufe der Zeit sind es immer mehr geworden.
In den Kirchen haben sie gebetet für Frieden und Freiheit. Und dann sind sie auf die Straßen gegangen und haben mit Kerzen friedlich demonstriert, dass sich was ändert in ihrem Land.
Mich hat das beeindruckt. Denn da haben Christen ihre Verantwortung für die Gesellschaft wahrgenommen. Sie haben gebetet und gehandelt.
Das war der Anfang. Und dann ist geschehen, was viele für nicht mehr möglich gehalten haben: die Mauer, die Deutschland fast dreißig Jahre geteilt hat, ist gefallen.
Und nicht nur ich bin davon überzeugt: Letztlich waren es die Gebete der vielen Menschen: Die haben die innerdeutsche Mauer zu Fall gebracht.
Mir macht diese Geschichte Mut. Und sie fordert mich heraus, noch öfter für unsere Politiker zu beten, dass sie ihre Macht und ihren Einfluss nutzen - nicht zum eigenen Vorteil, sondern zum Nutzen aller.
Dafür will ich beten, dass sich die Gesetzgeber ihrer Verantwortung vor Gott bewusst sind und sich an die Gottes Gebote halten, dass sie das Leben und seine Würde unter allen Umständen schützen.
Ich will dafür beten, dass die, die heute gewählt werden, ihr Amt recht ausfüllen.
Ich finde, das sind wir unseren Politikern schuldig. Finden Sie nicht auch?

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16095
weiterlesen...