Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Normalerweise hab ich so meine Betriebsgeschwindigkeit. Aufstehen, duschen, mit der Kaffeetasse in der Hand Blumen gießen, auf der Fahrt zum Büro eine Telefonat und im Aufzug mit dem Kollegen einen Termin besprechen. Das sind wie kleine Rituale, die mir das Gefühl geben: das flutscht, du hast dein Leben im Griff, du managst das.
Bis meine Mutter kommt. Die ist zwar ganz fit und schnell im Kopf, aber mit dem Laufen ist das so ne Sache. Ohne Arm oder Rollator geht gar nichts. Besser noch wäre Rollstuhl. Aber am liebsten ist ihr der Arm. Man hat ja auch noch ne Würde! Meint sie.
Und dann passiert es. Ihre Würde bremst mich aus. Allein von der Wohnungstür bis zum Auto dauert es dreimal so lang wie gewohnt. Wenn wir dann endlich, endlich im Laden sind und an der Kasse stehen, nestelt sie umständlich am Geldbeutel rum und lässt die Kassiererin mit freundlichem Lächeln einfach- warten. Wenn wir dann raus gehen und durch die Einkaufsmeile laufen, sie am Arm,  muss ich immer wieder mindestens einen Gang runterschalten.
Ein Philosoph hat mal gesagt: es gibt zwei Arten von Zeit. Die eine Zeit ist die, die man plant, organisiert und optimiert. Da ist man der Macher, die Managerin. Da flutscht es. Und dann gibt es die andere, die geschenkte Zeit. Da gibt man die Kontrolle ab. Ist einfach nur da. Weil einen jemand braucht. Die alte Mutter, das Baby, die Freundin, die weinend am Telefon ist. Und dann wird man mitten im Lauf ausgebremst.
So muss es auch zwei Männern ergangen sein, von denen die Bibel erzählt. Die beiden wollen ihren kranken Freund zu Jesus bringen, damit er ihn heilt. Aber die Menschenmasse bremst sie in ihrem Vorhaben aus. Es ist kein Durchkommen. Also schleppen sie ihren kranken Freund aufs Dach, decken mühsam Ziegel um Ziegel ab und lassen ihn von oben an Seilen runter. Direkt vor Jesu Füße.
Und dann erleben sie etwas Wunderbares. Sie erleben, wie ihr Freund heil wird. Und sie gleich mit. Und so ergeht es mir mit meiner Mutter. Erst ist es nervig. Dann spüre ich eine wunderbare Ruhe. Geplante Zeit und verschenkte Zeit. Beides ist nötig, wenn etwas heil werden soll.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16086
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