Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Ich bin aus dem Haus gegangen, die Treppe zum Gehweg hinunter. Da lagen auf einer Stufe die Abfälle von einem Heftpflaster - und daneben eine selbstgebrannte CD. Bestimmt hatte sich jemand hingesetzt und seine Wunde verarztet. Und beim Weggehen nicht mehr an die abgelegte CD gedacht. Also nahm ich sie und legte sie gut sichtbar auf die Treppe - damit der Besitzer seine Scheibe auf jeden Fall sieht, wenn er zurückkommt und sie sucht. Stattdessen kurz danach diese Szene: Da kommt eine alte, gehbehinderte Frau, sieht die CD, schaut sich kurz um, grabscht sie blitzschnell - und weg war sie ihrer Tasche auf dem Rolator. 

Ich war sprachlos. Was will denn die alte Frau mit dieser CD anfangen? Mit fremden Fotos oder Texten? Aber sie hat sie dennoch gegrabscht. Einfach um sie zu haben. 

Die alte Frau tut mir leid. Sie hat es offensichtlich nötig, etwas mitzunehmen und sich anzueignen, damit sie es besitzt. Damit es ist ihr dann besser geht. Aber mehr haben, um mehr zu sein: Das geht so nicht auf. Erst recht im Alter nicht. 

Thema des Alters ist eher das Loslassen. Ich kenne eine Reihe älterer Menschen, die sich darin üben. Die sind beim Älterwerden nicht darauf aus, noch mehr zu haben. Im Gegenteil: Die haben das Loslassen gelernt. Die trennen sich schon von dem einen oder anderen, was sie haben. Sie verteilen es an ihre Kinder oder auch an bestimmte Projekte, die ihnen am Herz liegen. Sie lassen auch los, was hinter ihnen liegt, was nicht mehr geht. Dadurch gewinnen sie an innerer Freiheit und deshalb an Lebensqualität. 

Älter werden heißt,  loslassen zu lernen. Bis dahin, dass ich ja im Tod mich selbst loslassen muss. Das geht leichter, wenn ich es schon vor dem Sterben ein wenig übe. Ich vertraue darauf: Wenn ich loslasse, werde ich freier. Und wenn ich mich selbst loslasse, dann werde ich von den Händen Gottes aufgefangen und bin bei ihm geborgen.

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