Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Bereits zwei Kinder hat die junge Frau schon früh verloren. Die Ärzte hatten sie gewarnt: Jedes ihrer Kinder würde einen genetischen Defekt, eine schwere Herzschwäche aufweisen und seinen zweiten Geburtstag nicht überleben. Trotz aller Warnungen ist sie jetzt mit dem dritten Kind schwanger. Alles deutet darauf hin, dass auch dieses Kind krank sein wird. Auf teils mitleidige, teils verständnislose Fragen, warum sie sich das antue, antwortet sie: Ich habe mich damit abgefunden, dass meine Kinder bei mir nur zu Gast sind.

Diese Antwort hat mir zunächst die Sprache verschlagen. Sind die Frau und ihr Mann unverantwortlich, weil sie immer aufs Neue Kinder einem frühen Tod ausliefern? Oder sind sie naiv und nicht in der Lage, eine vernünftige Familienplanung aufzustellen? In jedem Fall stehen  das Verhalten des Paares und die Antwort der Frau quer zu allen landläufigen Wertungen. Die sind eher geprägt von Wunschkindvorstellungen, oft sogar von der Idee, es gebe ein Recht auf ein gesundes Kind und Paare hätten gegenüber der Medizin einen Anspruch auf fehlerlose Kinder.

Und dagegen setzt die junge Frau den Satz: Meine Kinder sind nur meine Gäste.

Gäste macht man sich nicht zurecht, man nimmt sie wie sie kommen. Und Gäste sind in den meisten Kulturen heilig, sie genießen unverbrüchlichen Schutz. Gäste gehen wann sie wollen, sie werden nicht festgehalten und nicht hinausgeworfen.

Die Aussage der jungen Frau mag nicht gefallen, sie mag außergewöhnlich sein und in manchen Ohren ärgerlich klingen. Aber sie bringt einen ungeheuer tiefen Respekt vor den Kindern zum Ausdruck. Kinder sind nicht die Garanten des Lebensglücks der Eltern, sie sind nicht deren fleischgewordene Vorstellung von Gesundheit und Perfektion. Kinder sind eigenständige, freie Persönlichkeiten, die kommen und gehen dürfen wie Gäste und für die Dauer ihres Bleibens volle Gastfreundschaft beanspruchen können.

Jenseits der gängigen Vorstellungen und auf einzigartige, nicht zu verallgemeinernde Weise geben die junge Mutter und ihr Mann ein besonderes Zeugnis von der Eigenständigkeit und dem  Selbstwert von Kindern. Ein solches Verhalten kann von niemandem verlangt werden. Aber gerade in seiner Sperrigkeit und Einzigartigkeit ist es für mich überzeugend.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15976
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