SWR2 Wort zum Tag

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Ab und zu ist es nötig, sich den Hals zu verrenken.
Weil man ohne „Verrenkung", also ohne Anstrengung die wahren Preziosen nicht sehen könnte.
Z. B. in vielen Kirchen und anderen hohen Gebäuden. Sie haben es sicher auch da und dort schon schmerzhaft erfahren als Tourist. Kirchenfenster gibt es halt nicht auf Augenhöhe. Und Deckenfresken schon gar nicht.
Zum Glück habe ich mir vor einiger Zeit in Hildesheim die Mühe gemacht, den Hals zu verdrehen. Und lange senkrecht nach oben gestarrt. In der Kirche St. Michaelis. Deren bemalte Holzdecke ist nördlich der Alpen einzigartig. 800 Jahre alt.
Besonders faszinierend finde ich ein Segment dieses Deckengemäldes. Und seine theologische Botschaft. Dargestellt sind Adam und Eva. Die beiden stehen - wie oft gesehen - nackt um den paradiesischen Baum. Sie reichen einander die verbotene Frucht. Man sieht die beiden Urmenschen also an dem Punkt, wo sie ihre Freiheit so gebrauchen werden, dass die Folgen ihres Freiheitsgebrauchs sich gegen sie wenden. Später hat die Theologie für diesen brisanten Umschlagpunkt der Freiheit, den Begriff „Sündenfall" geprägt.
In der biblischen Erzählung von Adam und Eva kommt er noch nicht vor.
Aber diese Erfahrung, dass Menschen ihre Freiheit überdehnen, das kennen wir bis heute. Dass wir unsere Freiheit so egozentrisch leben können, dass daraus weitreichende, manchmal tragische Folgen erwachsen: Für andere Menschen und oft auch uns selbst.
Bis hierhin ist die Darstellung von Adam und Eva an der Decke in Hildesheim schon eindrücklich, aber dann wartet sie noch mit einer besonderen Überraschung auf.
Links neben Adam und Eva steht ein weiterer Baum. Und aus dessen Krone blickt Christus auf sie herab und segnet sie. Genau in diesem Moment, in dem sie ihre Freiheit überdehnen und missbrauchen. Sie können nicht sehen, dass sie gesegnet werden. Es geschieht quasi hinter ihrem Rücken. Aber es geschieht. Ein kühnes und schönes theologisches Bild. Tröstlich und auch berührend, fand ich, das zu sehen: Erst recht, wenn man es sich zu Herzen nehmen kann.
Noch im Augenblick des Vergehens, schon in dem Moment, in dem sich Menschen schuldig machen, werden sie gnädig angesehen. Nicht was sie tun, darauf liegt kein Segen. Aber von ihnen als Personen wendet sich Christus nicht ab, Gott bleibt uns gnädig zugewandt, auch wenn wir uns in Freiheit verstricken und verirren.
Wie gesagt, ohne den Hals ein wenig zu verrenken, sieht man das nicht. Aber so ist das: Das Entscheidende ist oft nicht zu haben, ohne Blick nach oben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15947
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