SWR2 Wort zum Tag

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Ein Glücksfall, wenn sich äußere Pracht so mit tiefer Nachdenklichkeit verbindet. Mit diesem Eindruck bin ich vor ein paar Wochen vom Marktplatz in Hildesheim weggegangen. Ein architektonischer Schatz ist dieser Marktplatz: Im Zweiten Weltkrieg kurz vor Kriegsende wie die ganze Stadt fast völlig zerstört, inzwischen aber wieder aufgebaut. Schön, wenn Pracht und Reichtum sich nicht nur selbstbewusst ausstellen, sondern auch mit Nachdenklichkeit verbinden.
Diesen Eindruck hat vor allem das so genannte Tempelhaus am Marktplatz bei mir hinterlassen. Das Haus selbst ist gotisch. Später hat man einen Erker vorgesetzt, ein Meisterwerk der Steinmetzkunst aus der Renaissance. Soweit die Pracht.
Und das Nachdenkliche? Es ist das Motiv, mit dem sich dieses Haus dem Marktplatz und damit allen Einwohnern der Stadt zugewandt hat. Und zuwendet. Und die Botschaft, die es erzählt, wenn man sie denn sehen will.
Es ist die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn. Zwei Schlüsselszenen sind nebeneinander am Erker in Stein gemeißelt.
Rechts: Der Sohn aus ehrenwertem Haus, der sein Erbe bereits durchgebracht hat und ganz unten gelandet ist. Als Sauhirte. Die Szene links zeigt die vornehme Familie fröhlich vereint beim Fest. Es wird getrunken und aufgetischt. Das unglaublich gute Ende.
So erzählt es ja die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn. Der Sohn verkommt -unerwartet- nicht in seinem Elend, in das er sich gebracht hat. Er findet wieder nach Hause.
Und dann diese unglaubliche Reaktion des Vaters. Diese doch unmögliche Möglichkeit, die trotzdem wirklich wird: Die Familie richtet ein Fest aus, ohne Wenn und Aber, ohne Moralpredigt. Der Sohn muss nicht zurücktreten. Ins zweite Glied. Nicht büßen. Liebe hebt alles auf.
Ich habe mich gefragt: Wie viele Väter und Söhne, Töchter und Mütter, die am Erker vorbeigekommen sind, haben in ihrer Familie wohl ähnliche Konflikte erlebt? Und wie viele haben es geschafft, eine gnädige Lösung in einem Eltern-Kinder-Konflikt zu finden? Vielleicht sogar inspiriert von den Vorbildern am Erker.
Einen Eltern-Kind-Kampf so zu lösen, dass Söhne und Töchter ihren eigenen Weg gehen können, ohne sich zu verbiegen. Und so, dass Mütter und Väter am Ende sagen können: Wir haben nicht alles richtig gemacht, aber es ist am Ende gut gegangen. In Liebe. Und wir freuen uns wieder, wenn wir uns sehen.
Wieder weg aus Hildesheim, dachte ich: Es wäre doch gut, wenn auch in anderen Städten an diese Geschichte erinnert würde. Und wenn auch moderne Häuser Glanz mit Nachdenklichkeit verbinden könnten.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15945
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