SWR2 Wort zum Tag

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Zwei unverheiratete Frauen leben miteinander in einem Haushalt. Schwestern sind sie: Maria und Martha. Das Lukasevangelium im Neuen Testament erzählt von ihnen. Wir erhalten nur einen kurzen Einblick, werden Zeugen einer kritischen Situation. Und wir lernen dabei zwei sehr unterschiedliche Frauentypen kennen: Martha scheint ein traditionelles Frauenideal zu repräsentieren, während Maria geradezu modern und zeitgemäß wirkt.
Zu Beginn der Geschichte heißt es, Martha habe Jesus zu sich in ihr Haus eingeladen. Bekanntlich ist die Gastfreundschaft im Orient ein hohes Gut. Also kümmert man sich rührig um den Besuch. Zumindest Martha macht sich viel Arbeit damit, den Gast reichlich zu bewirten. Maria hingegen lässt die Arbeit liegen und nimmt sich Zeit für den Besucher.
Die beiden Schwestern geraten in Streit. Was ist besser? Ist es besser, durch viele Speisen und Getränke, die aufgefahren werden, dem Gast zu vermitteln: „Du bist willkommen"? Oder zählt die gesprächsweise Zuwendung dem Besucher gegenüber mehr?
Jesus gibt eine geradezu salomonische Antwort an Martha, die jedoch zugleich eine Botschaft an Maria enthält: „Du machst dir viel Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt."
Das klingt zunächst so, als wolle Jesus Martha kritisieren; als gäbe er Maria Recht. In der Auslegungsgeschichte hat man es oft so verstanden: Wenn der Meister Jesus kommt, hat die Arbeit zu ruhen und man hat aufmerksam zuzuhören.
Doch ich verstehe Jesu Antwort nicht in einem grundsätzlichen Sinn. Was besser ist - das lässt sich nicht anhand der Handlungen selbst entscheiden. Hausarbeit oder zuhören, bewirten oder Konversation treiben - da gibt es keine eindeutige Entscheidung. Maria hat sich für das entschieden, was jetzt für sie wichtig und dran ist. Sie hat das gewählt, was für sie im Augenblick gut und richtig ist. Sie tut das Richtige - nicht weil es die in dieser Situation angemessene Handlung wäre, sondern weil es das Richtige für sie ist.
So gesehen liegt in dieser Erzählung ein ungeheures Befreiungspotential. Mit seiner Antwort befreit Jesus beide Frauen, aus geprägten Rollenerwartungen auszusteigen und das zu tun, was ihnen Erfüllung bringt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15916
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