SWR2 Wort zum Tag

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Sechs Geschichten aus dem Exil, eine realistischer als die andere. Was Albert Camus unter dem Titel „Das Exil und das Reich"  erzählt, sind förmlich alltägliche Szenen.  Exil ist die Chiffre für falsches, eingezwängtes Leben, beengende Normalität sozusagen. Die Eingangsgeschichte erzählt von einer Frau, die seit zwanzig Jahren an ihren Mann gekettet ist: anfangs wars Liebe, jetzt ist es nur  graue Gewöhnlichkeit.  Sie ist mit ihm unterwegs auf Geschäftsreise in Nordafrika: Tag für Tag derselbe Trott, und das alltägliche Mittrotten. Schon am Rande der Wüste gerät die Frau  durch Zufall in eine Art Befestigungsanlage mit weiter Aussicht. In der Nacht geht sie heimlich wieder hinaus, ihren Mann schlafend zurücklassend, voller Unruhe, Enttäuschung und Sehnsucht - irgendwie heraus aus dem alltäglichen Gefängnis und Exil.

Camus erzählt das bewegend: „Sie atmete frei, sie vergaß die Kälte, die menschliche Schwere, das wahngepeitschte oder erstarrte Dasein, die lange Bangigkeit des Lebens und Sterbens. Nachdem sie , so viele Jahre lang vor der Angst fliehend, blindlings und ziellos dahingestürmt war, hielt sie nun endlich inne. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, zu ihren Wurzeln zurückzufinden...."  Die Weite der nächtlichen Wüste verspricht Befreiung  - heraus aus dem Exil, heraus wie die  Israeliten aus Ägypten, heraus wie Jesus aus dem Tod. Und dann überwältigt es sie tatsächlich, und ein erlösender Tränenstrom bringt die Wende. Camus schreibt: „Da begann mit unerträglicher Milde das Wasser der Nacht Janine zu erfüllen, es begrub die Kälte unter sich, von dem geheimen Mittelpunkt ihres Wesens stieg es nach und nach empor und drang in ununterbrochener Flut bis in ihren von Stöhnen übergehenden Mund. Im nächsten Augenblick breitete der kalte Himmel sich über ihr, die rücklings auf der kalten Erde lag."

Camus wählt das biblische  Bildwort vom Reich für das erlöste, wahre Leben: heraus aus der Enge und dem Exil  , hinein in das Land, wo Milch und Honig fließt, das Mutterland mit seiner nährenden Zärtlichkeit. Der christliche Leser wird in diesen Geschichten „Das Exil und das Reich" gewiß auch an die Leidenschaft Jesu denken : „es komme dein Reich, deine Weltherrschaft, deine Gegenwart". Die Tränen der Frau  steigen wie Grundwasser auf in der Wüste  - und ein neues Leben wird sichtbar, ein wahres im falschen. „Vater unser, dein Reich komme".

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15852
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