Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

 Vor ein paar Wochen hatte ich abends beim Nachhausekommen eine unbekannte Frau auf meinem Anrufbeantworter. Beinahe hätte ich sie gelöscht - aber Gott sei Dank hab ich dann dochnoch mal genauer hingehört. „Hallo, guten Tag, meine Name ist sowieso. Ich habe heute am Fahrkartenautomaten ihre EC-Karte gefunden Wenn Sie mir Ihre Adresse durchgeben, schicke ich sie Ihnen zu." Einen Riesenschrecken hab ich erst mal bekommen - ich hatte überhaupt noch nicht gemerkt, dass mir meine EC-Karte fehlt. Und dann kam gleich eine Riesenerleichterung dazu: Da hatte eine freundliche Frau die Karte gefunden, sogar meine Telefonnummer rausbekommen - und sie will mir meine Karte zuschicken! Das hat sie dann auch wirklich getan - zwei Tage später lag die Karte wohlbehalten in meinem Briefkasten.

Nach so einer Erfahrung denke ich wieder: Die Menschen sind doch besser als ihr Ruf. Sicher, es gibt auch die Schurken, die EC-Karten einstecken oder andere Leute anpöbeln. Aber ich treffe deutlich mehr Menschen, die freundlich und zuvorkommend sind. Junge Leute etwa, die im Zug den Älteren die Koffer rausheben. Oder neulich abends in der Straßenbahn: Da ist ein Mann betrunken halb vom Sitz gerutscht - und sofort sprangen drei Leute hin und haben geholfen. 

Die Menschen sind besser als ihr Ruf: Das ist auch ein Ergebnis in einem meiner derzeitigen Lieblingsbücher: „Tschick" von Wolfgang Herrndorf. Die Hauptfigur, der 14jährige Maik,erzählt da: „Seit ich klein war, hatte mein Vater mir beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch... Der Mensch war zu 99 Prozent schlecht ... Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war." (Wolfgang Herrndorf, Tschick, Berlin 2010, Seite 209)Auch dieser Maik und sein Freund hatten die Erfahrung gemacht: Die Leute - wildfremde Leute - sind erstaunlich nett zu ihnen. 

Die Menschen sind besser als ihr Ruf! Ich finde, das ist eine wichtige Botschaft. Und irgendwie steckt auch eine, die ansteckt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15771
weiterlesen...