SWR2 Wort zum Tag

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Hätten Sie das gedacht, dass die fußballverrückten Brasilianer ein Vorbereitungsturnier zur Weltmeisterschaft dazu nützen, gegen soziale Missstände zu demonstrieren? Dass sie dabei den Fußball fast zur Nebensache machen? Ich war baff. Kein Land kann mit größerer Begeisterung Gastgeber eines solchen Turniers sein - dachte ich. Stattdessen sahen wir die größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes. Überwiegend junge Leute machten deutlich, dass ihnen der Widerstand gegen soziale Missstände, Korruption und Polizeigewalt wichtiger ist, als die Austragung der Fußball-WM. An einem Abend gingen mehr als eine Million Menschen auf die Straßen, in mehr als 100 Städten.
In der Türkei war es eine ähnliche Bevölkerungsschicht, nämlich junge und gut informierte Menschen, die sich Sorgen machten um die zunehmend autoritäre Politik ihres Ministerpräsidenten. Auch hier ging es um Widerstand gegen Polizeigewalt, dann aber vor allem darum, dass die Meinungsfreiheit und andere Freiheitsrechte langsam ausgehöhlt werden. Auch hier gehen die Zahlen der Demonstranten in die Hunderttausende, vor allem am Taksim-Platz in Istanbul, aber auch in anderen großen Städten. Eigentlich hätte man doch eher damit rechnen müssen, dass der großartige wirtschaftliche Aufschwung die Aufmerksamkeit in der Türkei auf sich zieht und dagegen die Einschränkung von Freiheiten wenig Bedeutung hat. Man kennt ja Brecht's geflügeltes Wort, dass zuerst das Fressen käme und dann die Moral.
Und jetzt auch noch Ägypten! Was war ich frustriert darüber, dass die gebildete Jugend mit ihrem Schrei nach Freiheit den Weg freigekämpft hatte auf dem Tahir-Platz von Kairo und nun ein ganz anderer Geist als der der Freiheit den Gewinn aus der Situation ziehen konnte: Nämlich ein Präsident, der immer autoritärer und unverschämter die eigene Macht und die seiner Gesinnungsgenossen ausbaute. Ich ging davon aus, dass die Revolution jetzt gescheitert ist, die Revolutionäre frustriert vor den Trümmern ihres Aufstandes stehen. Stattdessen sind sie noch einmal aufgestanden, noch zahlreicher sogar als vorher, unglaublich! Die Zahlen in Ägypten toppen auch diejenigen aus Brasilien und der Türkei - von den größten Demonstrationen der Geschichte ist die Rede.
Da stehen Menschen für ihre Rechte auf, protestieren friedlich - auch wenn leider immer Gewaltbereite darunter sind, die die Situation ausnutzen. Die schiere Zahl derer, die aufstehen, überwältigt die Mächtigen. Aufstand kommt von aufstehen. Wenn ich daran denke, wie schwer es mir oft fällt, aus meiner Lethargie aufzustehen, dann kann ich nur sagen: Hut ab vor diesen Menschen.

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