SWR2 Wort zum Tag

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Die Liebe hört nicht auf / mich zu verunsichern / Sie findet Fugen zum Eingreifen / wo ich keine vermute / Sie überredet mich / in der Muttersprache des Menschen / Sie öffnet mir die Augen / und tritt als Sehnerv ein / An dieser Stelle ist der blinde Fleck / Und ich sollte nicht mit der Wimper zucken? (Eva Zeller, Nach erster Korinther dreizehn (Strophe IX)

Diese Worte wählt die Lyrikerin Eva Zeller für ihre Übertragung des biblischen Hohenlieds der Liebe aus dem Korintherbrief.
Die Liebe hört nicht auf, mich zu verunsichern.
An dieser Formulierung bin ich hängen geblieben. Das ist ein schöner, aber ein ungewöhnlicher Gedanke, finde ich, tastend und behutsam. Ein bisschen irritierend zunächst: Ist das nicht etwas Negatives, dieses „Verunsichern"? Doch ich verstehe ihn so: Liebe ist nicht vollmundig im Erklären und Deuten, sie lässt sich verunsichern und einen bedenken: Wie hat wohl der andere verstanden, was ich gesagt habe? Liebe will um des anderen willen genauer hören, sehen, wahrnehmen, will verstehen, worum es ihm geht. Liebe fragt nach.
Denn wer liebt, so hoffe ich wenigstens von mir und von anderen, fragt nicht mürrisch oder verzagt oder aus dem drängenden Wunsch heraus, sich selbst zu bestätigen. Wer liebt, fragt aus Achtsamkeit und Fürsorge nach der Sichtweise des Anderen: Habe ich das richtig verstanden? Hat es der andere vielleicht doch anders gemeint, und ich habe es nicht begriffen?
Das gelingt gewiss nicht immer. Die Liebe, ob wir sie geben oder empfangen, kann eifersüchtig und misstrauisch sein, auf sich selbst bezogen, kann von der Angst bestimmt werden, zu kurz zu kommen.
Gleichzeitig sind wir so bedürftig danach, nach Freundschaft, nach Partnerschaft, nach Gemeinschaft. Wenn sich so viel um uns herum ändert, wenn so vieles in der Welt ins Wanken gerät - das eine soll bleiben: die Liebe. Lieben und geliebt werden: Wie unvorstellbar, das ganz allein aus eigener Anziehungskraft oder Liebenswürdigkeit schaffen zu müssen! Aber so kommt es einem oft vor: Alles Glück des Lebens wird dem eigenen Können zugeschrieben. Auch, ob es gelingt, geliebt zu werden. Es wird suggeriert: Geliebt wird, wer sich möglichst unangefochten und stark gibt, wer keine Schwächen hat. Dahinter steht das Konzept vom Menschen, der alles kann und weiß und seines Glückes und eben auch seines Geliebtwerdens Schmied ist.
Dagegen erkennt dieser biblische Gedanke: Ich sehe doch oft nur meine Sicht der Dinge. Und betont: Liebe macht einen aufmerksam für die Sichtweise des Anderen.
Liebe fragt nach. 

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