SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Ich ärgere mich, wenn jemand zu mir sagt: „Du Schaf." Die Bibel erlaubt sich das ja an mancher Stelle. „Der Herr ist mein Hirte" heißt es dann. Ich also ein Schaf. Das hat mich schon manchmal irritiert. Bis ich Margarete kennengelernt habe.
Margarete war eigentlich gelernte Schäferin. Nun aber hat sie im Studentenwohnheim direkt neben mir gewohnt. Sie mochte ihr Studium. Aber ab und zu hatte sie einfach Heimweh nach Schafen.
Eines Tages stand sie vor mir, eine dicke Brieftasche unter dem Arm. „Magst Du Dir Bilder ansehen?" fragte sie. Ich dachte an Kinderbilder. Margarete aber klappte ihre Brieftasche auf und zeigt mir: ein Schaf.
Auf dem ersten Bild von vorne, dann von der Seite, und von hinten. Inzwischen hatte ich mich so weit erholt, dass ich höflich fragen konnte: „Wie heißt das Schaf?" Margarete war ganz entsetzt: „Das sind doch verschiedene!!"
Ich gebe zu, es war mir nicht aufgefallen. Also fing Margarete nochmal mit dem ersten Foto an und stellte mir Hans vor. Hans, das Schaf. In kürzester Zeit wusste ich alles über Hans. Angefangen bei seiner schweren Geburt über sein wildes Temperament bis hin zu seinem Lieblingsfutter.
Auf dem zweiten Foto war Suse: sie hatte Margarete viele Sorgen gemacht - war als Kleines ziemlich kränklich gewesen. Dann ein besonders entzückendes Bild von Lotte, einem eher schüchternen Schaf. Und so weiter. Ich habe an jenem Nachmittag viele Schafe kennengelernt.
Für Margarete waren das nicht einfach nur Schafe. Für sie waren das Hans und Suse und Lotte. Jedes Schaf etwas ganz besonderes. Sie hat sich um diese besonderen Geschöpfe Gedanken gemacht. Hat sich um sie gesorgt und gekümmert.
Ich glaube, darum geht es, wenn es in der Bibel heißt: „Der Herr ist mein Hirte".
Er kennt mich. Noch besser als Margarete ihre Schafe kennt. Er kennt meine Geschichte und hat mich von Anfang an begleitet. In guten und schlechten Zeiten war er immer mit dabei.
Vielleicht war ich manchmal mit anderem beschäftigt. Er hat mich trotzdem nicht aus den Augen verloren. Keinen Moment. Er trägt mich in seinem Herzen.
Und das für immer.

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