SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

An jedem Abend „klingt" es nach Feierabend. Die Glocken unserer Kirche zeigen es an. Jeden Abend um 18 Uhr läutet es. Oft überhöre ich das. Bin um diese Zeit noch unterwegs oder auch nur mit meinen Gedanken ganz woanders. Ein Urlaubserlebnis lässt mich nun wieder mehr hinhören: Die Geschichte der Glocke von Uglitsch.
„Unser ganzes Leben lang begleitet uns der Klang der Glocken." Hat die Reiseführerin gesagt, die uns durch die Stadt Uglitsch geführt hat. Wir waren Luftlinie 200 km nördlich von Moskau in einer der vielen wundervollen Kirchen Russlands mit goldenen Zwiebeltürmen. Und dann hat uns unsere Führerin erzählt, dass es im Russischen nicht heißt: „Die Glocke läutet", sondern man sagt: „Die Glocke spricht."
„Wie ein Mensch," hat sie erkläret, und wir haben erfahren, dass der Klöppel im Russischen „Zunge" genannt wird.
Und dann hat sie uns die Glocke der Blutkirche von Uglitsch gezeigt, der man den Klöppel - im Russischen sagt man: die Zunge -- weggenommen hat, damit sie nie mehr spricht. Die Glocke hatte am 15. Mai 1591 in einer der Kirchen in Uglitsch einen traurigen Dienst tun müssen: Der achtjährige Zarensohn Dimitri, der legitime Nachfolger von Iwan dem Schrecklichen, war ums Leben gekommen. Bis heute ist nicht geklärt, auf welche Weise. Hundert Jahre später hat man an der Stelle, wo er umkam, eine Kirche errichtet. Die „Blutkirche von Uglitsch". Die Glocke, die die traurige Nachricht vom Tod des Zarewitsch verkündet hatte, wurde für Jahrzehnte in die sibirische Verbannung geschickt. Wie ein Mensch. Dann kam sie zurück und steht heute stumm und ohne Klöppel in einem Glaskasten in der Kirche, die an den Tod des Zarensohnes erinnert.
Ich staune: Dass eine Glocke eine solche Aufmerksamkeit bekommt! Solche Gefühle auslöst. So sehr als Botschafterin verstanden wird.
In Zeiten, in denen wir allüberall von Klängen umgeben sind - im Supermarkt, auf dem Bahnsteig, im Warteraum bei  Zahnarzt - es klingt wie aus einer anderen Welt.
Die traurige Geschichte der Glocke von Uglitsch hat mich daran erinnert: Glocken haben etwas zu sagen.
Seit ich wieder daheim bin nach dieser Reise, höre ich den Glockenklang unserer Kirche wieder viel bewusster. Jetzt kann ich deutlich hören, was diese Glocke mir sagt: Es ist Feierabend.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15575
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