SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Den eigenen Ton zu finden, das ist eine Sache, für die man wohl ein
ganzes Leben braucht. Davon erzählt eine kleine Geschichte.
Vor Jahren lebte in Armenien ein Ehepaar. Der Mann war ein
Cellospieler - einer der Großen seiner Zeit, der alles, was für sein Instrument komponiert worden war, virtuos beherrschte.
Je älter er aber wurde, desto weniger spielte er. Und desto mehr legte er darauf Wert, dieses Wenige in höchster Vollendung zu spielen. Als er nun ganz alt war, da spielte er nur noch einen einzigen Ton. Diesen aber so wunderbar, wie man es nie zuvor von einem Cello gehört hatte.
Seiner Frau war das langweilig - täglich stundenlang derselbe Ton! Schließlich wusste sie, was für einen begnadeten Cellospieler sie zum Mann hatte. Nun geschah es, dass in diese kleine Stadt eines Tages ein
Orchester kam und ein Konzert gab.
Die Frau ging voller Erwartung hin, kehrte begeistert zurück und berichtete ihrem Mann: „Da waren aber ganz viele Cellisten in diesem Orchester, und die spielten rauf und runter, viele verschiedene Töne - und du spielst immer nur den einen Ton." Darauf der Mann: „Die suchen noch ihren Ton."
Ich finde, eine schöne Geschichte! Was tut ein Mensch anderes, wenn er singt oder musiziert, als unter all den Tönen, die in der Welt sind, den Ton zu suchen, von dem er sagen kann: der ist es! Das genau ist mein Ton, der mich berührt. Der die Grundstimmung meines Lebens trifft.
Dazu braucht es den Umgang mit der Musik und dem Musizieren, wo ich spüre: es geschieht etwas mit mir. Ich bewege mich in Harmonien, die auseinander streben und irgendwann nach Auflösung verlangen. In einem Rhythmus, der meinen eigenen Rhythmus heilsam verändert.
Könnte das nicht ein gutes Gleichnis sein für das, was „Glauben" heißt? Auch beim „Glauben" geht es darum, den Ton finden, auf den das Leben gestimmt ist. Den Grundton, über dem sich die Komposition meines
Lebens erhebt.
Ja, zuweilen ist der Glaube die trotzige Gegenstimme, die ich brauche, um in meinem Leben zu bestehen. Ein hoffnungsvolles Lied gegen die Macht der Gewohnheit und den Druck der Verhältnisse. Manchmal ist er der Klang, der meiner Stimmung eine neue Tonfarbe oder ein neues Thema gibt.
Mich jedenfalls regt die Geschichte vom alten Cellisten dazu an, dem Ton nachzuspüren, der mein eigener, mein ganz persönlicher Ton ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15537
weiterlesen...