SWR4 Abendgedanken

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„Die sieben Weltwunder" waren in der Klassenarbeit gefragt. Die Pyramiden in Ägypten hatten die meisten. Die einen sind bei weiteren außergewöhnlichen Bauten und Kunstwerken der Antike geblieben: die hängenden Gärten zu Babylon, der Tempel der Artemis in Ephesus, der Koloss von Rhodos. Bis auf die Pyramiden existiert keines der antiken Weltwunder mehr. Darum sind für die anderen Schüler spätere Weltwunder wichtig gewesen: die Chinesische Mauer, das Taj Mahal in Indien, der Petersdom in Rom. Ein Schüler erinnerte sich sogar an das so genannte „achte Weltwunder" und dachte dabei offensichtlich an seine schöne Freundin. 

Alle hatten inzwischen abgegeben. Nur eine Schülerin ist noch nicht fertig gewesen. Die Lehrerin fragt: „Ist das so schwierig?" Die Schülerin: „Ein bisschen schon, es gibt so viele Wunder." Darauf die Lehrerin verständnisvoll: „Dann lies mal vor, was du hast. Vielleicht kann ich dir helfen." Alle waren gespannt. 

Ein ungewöhnlicher Vorgang: ein Gespräch nach der Klassenarbeit über die Klassenarbeit. Etwas zögerlich, aber durchaus nachdenklich begann die Schülerin vorzulesen, was sie geschrieben hatte: „Ich glaube, die sieben Weltwunder sind: sehen - hören - fühlen - riechen - sprechen - lachen - lieben." 

In der Klasse war es „muxmäuschen" still geworden. Damit hatte niemand gerechnet, auch nicht die Lehrerin. Die Schülerin hatte mit „ihren" sieben Weltwundern eine ganz andere Spur gelegt. Was jede und jeder für allzu selbstverständlich hält, ist zu einem wichtigen Gesprächsthema in der Klasse geworden. 

Das Wertvollste im Leben können wir nicht planen und bauen, nicht machen und kaufen. Das Wertvollste im Leben sind die Wunder: dass wir sehen und hören können, fühlen und riechen, sprechen und lachen, dass wir lieben können. 

Auch für mich ist das ein Lehrstück. Wie selbstverständlich nehme auch ich das alles. Und wie sehr sehnen sich Menschen danach, die blind sind oder gehörlos, denen das Lachen im Leben vergangen ist oder die in der Liebe Pech gehabt haben. Die Schülerin mit ihren „alternativen" sieben Weltwundern hat mich wieder sensibler gemacht für die scheinbar so selbstverständlichen Wunder im Leben - und dankbar. 

Was für eine nicht geplante Richtung doch eine geplante Unterrichtsstunde nehmen kann!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15508
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