SWR2 Wort zum Tag

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Vertrauen ist ein riskantes Unternehmen. Man riskiert: am Ende als der Dümmere da zustehen, enttäuscht zu werden, verletzt zu werden. Aber gerade weil es so riskant ist, lohnt es sich. Davon erzählt die Geschichte des heiligen Gerasimus.
Gerasimus war ein Christ zu einer Zeit, als es davon noch recht wenige gab. Er lebte ungefähr im 5. Jahrhundert. Eines Tages spaziert dieser fromme Mann am Jordan entlang und begegnet einem Löwen. Gerasimus nimmt nicht Reißaus - im Gegenteil. Denn der Löwe schreit jämmerlich und wie eine Katze, streckt er ihm seine Pforte entgegen. Er war aus Versehen in einen Stachel getreten! Gerasimus hat Mitleid mit dem Tier. Mutig nimmt er die Löwentatze in seine Hand, zieht vorsichtig den Stachel heraus, reinigt die Wunde und verbindet sie. Der Löwe, so müssen wir uns das wohl vorstellen, hielt die ganze Zeit über erleichtert still. Vermutlich war auch Gerasimus erleichtert, dass das Tier sich so gegen seine Natur brav gebärdete.
Auf jeden Fall macht er sich, nachdem er die Wunde versorgt hat, wieder auf den Weg. Als er sich nach einer Weile umschaut, sieht er, dass der Löwe treu hinter ihm her läuft. Von da an sind beide unzertrennlich, Gerasimus und der Löwe. Als Gerasimus in hohem Alter starb, da trauerte das Tier an seinem Grab und folgte seinem Herren kurze Zeit später nach.
Löwe und Mensch - in vielen Fällen geht diese riskante Begegnung nicht gut aus. Entweder der Löwe fällt über den Menschen her - oder der Mensch, so er denn eine geeignete Waffe besitzt, über den Löwen. Von daher gesehen lag das Risiko der Begegnung nicht nur auf der Seite des Heiligen.
Die Geschichte von Gerasimus lässt ahnen, dass es ein anderes Abenteuer als das der Jagd geben kann, bei dem entweder der Mensch oder der Löwe auf der Strecke bleibt. Nämlich das Abenteuer des Vertrauens. Von daher ist die Botschaft dieser Geschichte nicht einfach die: Gebt euch Pfötchen und habt euch lieb. Vielmehr die: Auch Vertrauen ist manchmal ein riskantes, aber doch oft lohnendes Unternehmen. Erst, als dem Löwen die Pfote so richtig weh tut, denkt er nicht mehr daran, seinen Retter sogleich zu verspeisen. In der Not riskieren wir sogar Vertrauen. Für Gerasimus aber bleibt das Restrisiko, dass der Gerettete anschließen über ihn herfällt. Aber: er tut es nicht, im Gegenteil.
Die Legende von Gerasimus erzählt das Abenteuer einer friedlichen Zähmung, das Abenteuer einer gelungenen Zivilisation. Auf dass der Mensch dem Menschen nicht länger ein Löwe bleibt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15456
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