SWR2 Wort zum Tag

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Zum 1ooo. Geburtstag von Hermann dem Lahmen

Die singenden  Mönche erreichen beste Plätze auf den Hit-Paraden: so fremd und so nah ist ihr liturgischer Gesang, ihr gregorianischer sound.  Da  findet offenkundig  eine Sehnsuchtsmelodie  Gestalt, die über Jahrhunderte hin schon  Menschen ergreift und in Schwingung  versetzt. Eine der schönsten Melodien und Texte aus dieser Schatzkammer stammt vermutlich von jenem Reichenauer Mönch, der in diesen Tagen seinen 1ooo. Geburtstag feiert:  Herrmann mit dem Beinamen der Lahme, weil er von Geburt an spastisch gelähmt und lebenslang an den Tragstuhl gefesselt war: ein führender Gelehrter  seiner Zeit, ein großer Mathematiker , ein Tüftler und eben Musiker.

Ich spreche vom Salve Regina: „Gegrüsset seist du Königin, Mutter der Barmherzigkeit".  Vor  über 6o Jahren  habe ich dieses Glaubenslied zum ersten Mal gehört - abends in der  Komplet der Benediktiner. Und immer noch  geht mir dieser Gesang unter die Haut und direkt ins Blut.  Angerufen wird Maria,  die Himmelskönigin und Erdmutter, ihr Gütezeichen istBarmherzigkeit . Und das meint ja wörtlich den Mutterschoß und das Sonnengeflecht,  jene Körpergegend also, in der es uns rührt und in der Raum ist für Neues im Alten. Herrmann der Lahme kontrastiert  - wie so viele vor ihm und nach ihm - Maria mit Eva: hier die Frau, die das Paradies verspielt; dort die Frau, die voll der  Gnade ist  und durch die Jesus zur Welt kommt,  das Heil und Glück der Welt: „zeige uns Jesus, die gebenedeite, die gesegnete Frucht deines Leibes...o gütige, o einfühlsame, o zärtliche Mutter"  - so gipfelt dieser gesungene Gebetsschrei, der zugleich  wie ein kuschelndes  Kinderlied klingt.

Das ist keineswegs  nur ein  Gesang aus der klösterlichen  Sonderwelt. In jedem Mensch steckt ja ein kleiner Mönch - und alle wissen von dieser Sehnsucht nach Gott, der gütigen Mutter und dem liebevollen Vater.   Zentral in diesem Lied ist  - auf den ersten Blick befremdlich, ja anstößig -  das Bild vom Exil. Die da singen  und Maria anrufen, nennen sich „verbannte Kinder Evas",  ganz und gar jenseits von Eden: „zu dir seufzen wir trauernd und weinend in diesem Tale der Tränen". Starke Bilder, eine schockierende Diagnose: im Exil seien wir,  keineswegs schon daheim und zu Hause! Hermann , der Reichenauer Mönch mit seiner lebenslangen Lähmung  wusste ein Lied darauf zu singen. Der mittelalterliche Mensch hatttegenug zu leiden  und sehnte sich  nach der anderen , der  besseren Welt - heraus aus dem Durcheinandertal, dem Tal der Tränen.  Maria steht dafür Patin, sie  ist unsere „advocata", unsere Anwältin. Sie steht ein für die Wahrheit,  die in Jesus erschienen ist - und überall erscheint, wo so gebetet und gesungen wird.  Heinrich Böll sprach  von der Wahrheit, „dass wir auf Erden nicht ganz zu Hause sind"  - und Herrmann der Lahme sprach es nicht nur, er sang es.

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