SWR2 Wort zum Tag

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Kritik kann schmerzlich sein. Ich stecke es jedenfalls nicht so leicht weg, wenn mich jemand zurechtweist. Umso weniger, wenn ich deutlich spüre: Diese Kritik ist berechtigt. Das war wirklich keine Meisterleistung. Dann reagiere ich bisweilen unwirsch, weil ich denke: Na, das weiß ich doch selbst. Das brauchst du mir doch nicht zu sagen.
Gleichzeitig weiß ich natürlich: Kritik ist etwas Wertvolles - einmal vorausgesetzt, sie geschieht nicht in böser Absicht, um jemanden schlecht zu machen oder peinlich vor anderen dastehen zu lassen. Wohlmeinende Kritik lässt mich etwas lernen.
Es gibt ein biblisches Sprichwort, in dem diese Einsicht aufgenommen ist:
„Wer etwas lernen will, lässt sich gerne korrigieren; wer keinen Tadel einstecken kann, ist dumm."(Sprüche 12,1)
Das klingt reichlich hart, denn Zurechtweisungen kratzen am Selbstbewusstsein. Wenn ich mir Kritik gefallen lassen muss, dann zeigt das ja, wie wenig ich aus mir selbst heraus zustande bringe und wie sehr ich andere benötige, die mir sagen, wie es vielleicht besser geht. Da werden die Ideale von Individualität und Autonomie hinterfragt. Mag der Ton, in dem mir solche Kritik gesagt wird, auch freundlich sein.
Die andere Seite, die das biblische Sprichwort erwähnt, ist dies: Wer keinen Tadel verträgt, bleibt nicht nur dumm, weil er nichts dazulernt, er ist auch dumm, weil er die Möglichkeit, auf diese Weise zu lernen, ausschlägt. Seine Dummheit besteht darin, dass er nur seine eigene Perspektive kennt und sie nicht erweitern lassen möchte.
Lernen heißt hier nicht: neues Wissen in sich aufzunehmen oder sich eine gewisse Fertigkeit anzueignen. Und Kritik üben heißt nicht: für den anderen zum Erzieher zu werden. Unter erwachsenen Menschen wäre eine solche Haltung in der Tat überheblich. Lernen im Sinne des biblischen Sprichworts bedeutet: reif werden zum Leben. Und wer kritikfähig ist, wächst über sich selbst hinaus.
Was also ist so schlimm daran, einen anderen Menschen nötig zu haben, der einem einen Spiegel vorhält? Ich lebe doch nie für mich allein. Alles, was ich tue, hat Auswirkungen auf das Zusammenleben mit anderen. Immer wieder stehe ich im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Vor meinen Kindern, vor meinen Kollegen, vor meinem Chef muss ich mich bewähren. Da kann es nur eine Hilfe sein, wenn man in einem geschützten Raum dazulernen darf.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15385
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