SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Du trinkst deinen Kaffee schwarz und das in rauen Mengen. Du hasst es, Krawatten zu tragen, und kaufst deine Kleider lieber selber. Mit Malerei hast du nichts am Hut, aber für gute Musik gehst du meilenweit. Du hast einen unglaublichen Gerechtigkeitssinn und ekelst dich vor Fröschen. Ach, wie gut kenne ich dich, mein Freund. Wie lange kenne ich dich, mein alter Freund.
Ich kenne deine Gewohnheiten, deine Eigenarten, deine Marotten. Manchmal denke ich, dass ich dich besser kenne, als mich selbst. Und dann wieder bist du mir ein Rätsel. Wenn du Dinge tust, Dinge sagst, mit denen ich im Leben nicht gerechnet hätte. Und da stelle ich mir die Frage, wie gut man einen Menschen kennen muss, damit er einem ganz und gar vertraut ist.
„Du sollst dir kein Bildnis machen", heißt es in der Bibel. Und dieser Satz ist fast so etwas wie eine Antwort auf meine Frage. Man kann einen Menschen niemals gut genug kennen, jeder Mensch bleibt ein Stück weit unberechenbar. Für sich selbst und erst recht für die anderen. Und deshalb soll ich mir kein Bild machen, soll gar nicht erst anfangen, jemanden festzulegen, in ein Bild zu packen.
„Du sollst dir kein Bildnis machen." Das ist ein guter Rat für alle Freundschaften, für alle Beziehungen. So gut ich jemanden auch kenne, so sehr ich einen anderen liebe, es bleibt doch immer ein Rest von Geheimnis, das ich nicht lüften kann. Und wenn ich es recht bedenke, auch nicht will.
„Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden." So sagt es der Schriftsteller Max Frisch. Noch ein Plädoyer dafür, einander zu lieben, ohne einander in Schubladen zu packen. Offen zu sein für Entwicklung, für das Unberechenbare. Offen zu sein dafür, dass Menschen anders sein können, als ich sie sehe. Dass sie sich auch ändern können. Und dass das gerade das ist, was unser Zusammenleben so spannend macht.

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