SWR2 Wort zum Tag

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Im Jahr 1939, wenige Monate vor seinem Tod, hat der Maler Paul Klee ein Bild geschaffen mit dem Titel: „Engel, noch tastend". In vielen Engelbildern hat sich der schwer kranke Künstler in seinen letzten Jahren mit seinem Sterben und seinem Tod auseinander gesetzt, mit Fragen, Hoffen und Zweifeln. Dieses Bild vom tastenden Engel rührt mich besonders an.

„Engel, noch tastend". Ich sehe vor einem rosa-beigen Hintergrund in feiner Strichzeichnung ein Kind mit hell kolorierten Haaren, einem nach vorne geneigten Gesicht und weit offenen Augen. Es trägt ein blaues Kleid mit einem angedeuteten Engelsflügel. Mit ausgestreckten Armen tasten Kinderhände am Rand des Bildes entlang. Dieser Rand verwehrt, auf das auszublicken und auszugreifen, was sich jenseits dieser Grenze verbirgt. Dunkle Schleier sind über das Bild gelegt und erinnern daran, dass dieses Kinderbild auch ein Todesbild ist.

Vielleicht liegen Kinderbild und Todesbild hier näher beieinander, als man meinen möchte. „Noch tastend" - das begleitet uns durch das ganze Leben. Ein Kind muss suchend und tastend seinen Weg ins Leben finden, immer wieder an Grenzen stoßen und Grenzen überwinden, hinter denen sich Neues, Unbekanntes, Offenes verbirgt. Später legt sich der Grauschleier des Erwachsenwerdens darüber. Enttäuschungen stellen sich ein, Verluste, Versagen. Der unbefangene Kinderglaube geht verloren, manchmal wird der Glaube reifer, manchmal bleiben nur Unsicherheit und Zweifel zurück. „Als ich ein Kind war", sagt der Apostel Paulus, „redete ich wie ein Kind, urteilte wie ein Kind, dachte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was Kind an mir war." Wir werden erfahrener, wissender - und in vielem auch unwissender. Wir kennen kaum uns selbst, geschweige denn, dass wir uns die eigentlichen und letzten Fragen nach dem Sinn von Leben und Sterben und nach Gott selbst beantworten könnten.

„Noch tastend." Das bleibt uns ein Leben lang. Das Kind in uns will immer noch wissen, was jenseits der Grenzen liegt. Der Engel in uns bleibt immer auf der Suche und hält die Ahnung eines anderen, neuen Lebens in uns wach. Aber auch die Grenzen, das Nichtwissen, das Nichtsehen bleiben. Jetzt erkennen wir nur unvollkommen, sagt Paulus, sehen nur schattenhafte Spiegelungen. Aber vielleicht genügt es ja auch, gerade so viel zu wissen, um vertrauensvoll die Hand auszustrecken und darauf zu vertrauen, dass jenseits der Grenze jemand in Liebe auf mich zukommt. Und dann, sagt Paulus, „werde ich ganz erkennen, so wie auch ich ganz erkannt bin".

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